: Revolution und Ritual
■ Zwei Monate vor dem Neujahrsfest begann in Nepal der Aufstand gegen das Regime von König Tribhuvan / Ein Tagebuch des Umbruchs von Niels Gutschow
Seit vielen Jahren hatte sich die Opposition in Nepal um Gehör bemüht, im Stile des Landes geduldig und maßvoll. Für 1990 jedoch war Kampfstimmung angesagt. Warum sollte, was in der DDR und in Rumänien geschehen war, nicht auch hier Wirklichkeit werden? 29 Jahre hatten die Nepalesen ein autoritäres Regime geduldet, das zudem kaum entscheidungsfähig gewesen war: denn „bhitra“ liefen die Fäden zusammen, „drinnen“ im Palast. Nichts lief ohne den König.
Die Unruhe hatte sich bereits Wochen zuvor angekündigt, ganz offen nannte die Opposition die Termine des Generalstreiks. Dann kam der „Tag der Demokratie“, der 18.Februar, der seit 1951 der Einfachheit halber auch gleich als Geburtstag König Tribhuvans gefeiert wird. Das seit 1961 von Königs Gnaden herrschende sogenannte Panchayat-System organisierte auch in diesem Jahr mit Aufmärschen die übliche Loyalitätskundgebung im Zentrum Kathmandus. Lastwagen wurden requiriert, um Pfadfinder, Sportvereine und Dörfler heranzukarren. Doch die Suche nach Claqueuren wurde in diesem Jahr schwieriger als sonst. Bereits im letzten Jahr war statt des versprochenen Handgeldes von 60 Rupien (Tageslohn eines Arbeiters) nur die Hälfte ausgezahlt worden. Für die Beamten ist das Erscheinen jedoch Pflicht, selbstverständlich richtig angezogen, in der merkwürdigen Kombination aus weißer nepalesischer Hose und schwarzem Jacket nach westlichem Muster.
Am Nachmittag des 18. Februar wurde es unruhig: Und tatsächlich bahnte sich eine Gegendemonstration der Opposition ihren Weg - nicht um das System zu verherrlichen, sondern um der Befreiung des Landes von der Rana-Clique zu gedenken, die Tribhuvan, der Großvater des Königs, 1951 mit Hilfe der Inder zuwege gebracht hatte. Für Nepal ging damals ein Jahrhundert unbeschreiblicher Unterdrückung zu Ende. Doch die junge Demokratie konnte sich nicht behaupten: Schon nach zehn Jahren riß Tribhuvans Sohn die Macht an sich. Ihm folgte der Enkel des Befreiers, der heutige König Tribhuvan, der sich seither gegenüber jedweden Veränderungswünschen taub stellte. Der in Harvard studierte Monarch erwies sich während seiner 15jährigen Regentschaft als völlig uneinsichtig.
Für den folgenden Tag, den 19. Februar, war eine Kundgebung im nahen Bhaktapur angesagt, der legendären Hochburg der Maoisten unweit von Kathmandu. Bereits am frühen Vormittag stoppte die Polizei den Vormarsch der Demonstranten auf den Sitz der lokalen Verwaltung. Im Gewehrfeuer der Polizei starben vier Menschen. So etwas hatte es in diesem Land noch nie gegeben! Blindlings war in die Menge geschossen worden. Die Leichen wurden ins Polizeiquartier geschleppt. Im wütenden Steinhagel von Demonstranten und Passanten jagten Polizeimannschaften durch die Stadt, in fruchtlosem Bemühen, „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Gewehrläufe richteten sich gegen jeden, der sich auch nur am Fenster zeigte. Auf der Hauptstraße verblieben lediglich völlig gelassen die „Götter“ der Stadt, die in Gestalt von Masken tragenden Tänzern im Rahmen eines zyklischen Stadtrituals die einzelnen Quartiere in vorgegebener Reihenfolge besuchen und damit segnen.
Die Polizisten - allesamt ortsfremd und unterschiedlichen Volksgruppen in den Bergdörfern zugehörig - konnten die Bedeutung dieser Götter nur ahnen, doch taten sie vorsorglich das, was in der Stadt jeder tut: Sie versicherten sich des Segens und des Schutzes dieser machtvollen Muttergottheiten, indem sie die Masken berührten und dann die eigene Stirn. So werden fast überall im Lande Kräfte übertragen, so „nimmt“ man von den Göttern. - Dann ging es weiter; nicht etwa soldatisch geordnet, sondern desorientiert und sicher auch in Angst: Zu recht fühlten sich die Polizisten in Feindesland. Sie schossen wahllos mit Tränengas und Rauchbomben um sich. Aber sie waren noch nicht außer Sicht, da wurde in ihrem Rücken bereits wieder obszön gejohlt; Baumstämme und gelbe Container eines bundesdeutschen Müllbeseitigungsprojekts dienten als Barrikaden.
Diese für die Nepalesen neue Erfahrung von offener und unkontrollierter Gewalt erhielt noch in der folgenden Nacht eine Dimension von Entwürdigung und Verachtung: Die Toten wurden nur unter der Bedingung herausgegeben, daß die Angehörigen sie fernab der Stadt noch in derselben Nacht verbrennen. Nur eine der vier betroffenen Familien ging darauf ein. Den anderen war es unmöglich, diese Bedingung zu erfüllen. Sie wollten nicht auf die traditionelle Leichenprozession verzichten, denn die Unterlassung des Totenrituals hätte unweigerlich schwerwiegende Folgen: Die Seelen der Toten würden ohne das Ritual nicht am elften Tag nach dem Tode befriedet die Stadt verlassen, sondern auf ewig die Schar der auf ähnliche Weise unbefriedeten Pisaca -Geister vergrößern. Diese Geister haben die Macht, den Raum des städtischen Lebens unsicher zu machen.
Während die Polizei nicht unbegründete Ängste vor weiteren Aufmärschen während der geforderten Leichenprozessionen hatte, mußte die Verweigerung der Herausgabe der Toten von den Bewohnern der Stadt als ungeheure Provokation empfunden werden. Ich war mir in jenen Tagen ganz sicher, daß diese Demütigung unabsehbare Folgen haben würde. Während die gleichgeschaltete Presse weiterhin stereotyp von „antinationalen Elementen“ und „ausländischen Provokateuren“ (gemeint waren natürlich die Inder) sprach, kündigten die beiden Gruppen der Opposition, die „Congress Party“ und die „United Left Front“ weitere Aktionen an.
„Nepal banda“ - geschlossenes Nepal -, eine Art Generalstreik, wurde nun in jeder Woche neu ausgerufen. Die erwartete Konfrontation blieb jedoch aus. Selbst am 25.Februar, dem Tag der Schwarzen Fahne - das südasiatische Symbol des Widerstandes -, ging es ruhig zu. Die Polizei nahm alle Fahnen ab, niemand leistete Widerstand dagegen. An den folgenen „banda„-Tagen waren die Reaktionen der Stadtbewohner auf die Streikaufrufe unterschiedlich: Während die Beamtenschar in Ermangelung öffentlicher Verkehrsmittel notgedrungen zu Fuß in die Ämter eilte, waren die Geschäfte mal geschlossen, mal geöffnet. Eine lähmende Ruhe breitete sich aus, eine Ungewißheit, die erst am 30. März durch neuen Aufruhr überwunden wurde.
Jetzt zogen in der benachbarten Stadt Patan die Menschen, mit Knüppeln und Sicheln bewaffnet, gegen das Verwaltungszentrum. Diese Aufmärsche wurden „Prozessionen“ genannt und das sicher auch nach der Art der Ankündigung und dem stark ritualisierten Verhalten. Jeder hat Übung in diesen Gängen durch die Stadt und selbstverständlich werden die seit alters her gebräuchlichen Prozessionswege beschritten, die den gesamten „Raum des städtischen Lebens“ symbolisieren. Am 2.April wurde eine solche Prozession in Patan zu einer Massendemonstration und am folgenden Tag erfaßte der Aufruhr das ganze Tal von Kathmandu; es wurde wieder geschossen.
In Bhaktapur fand der Protest in der ersten Aprilwoche einen ganz spezifischen Ausdruck. Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, wurde die Straßenbeleuchtung abgeschaltet und alle Häuser blieben dunkel. Damit gehörte die Stadt den Bewohnern. Während die Polizei sich im Licht von Scheinwerfern um das lokale Verwaltungsgebäude scharte, formte sich im Dunkel eine lange „Prozession“ mit Strohfackeln, der aus den Häusern am Wege unentwegt Nachschub gereicht wurde. Parolen wurden gerufen, die für den Außenstehenden manchmal nur mühsam zu entschlüsseln waren, manchmal auch überraschend einfach: Aus einem „Viva Democracy“ wurde „We want Democracy!“ - Alle Wut richtete sich indes gegen die Königin, die jetzt sarkastisch „Pompadevi“ genannt wurde - diejenige, die „350 Millionen Dollar auf einer Bank in Zürich“ deponiert hat - so exakt jedenfalls die Mitteilung der skandierenden Demonstranten. Mitgeführte Transparente zeigten den König mit einem Schloß vor dem Mund, dessen Schlüssel in der Handtasche der Königin verschwindet. Andere Transparente forderten „Bad go back!“ BAD steht für die ganze Clique, für (B)irendna, den König, (A)ishwarya, die Königin und (D)irendra, den Thronfolger. Plakate in Kathmandu zeigten den König gar in Verbindung mit Ceausescu. Dennoch: Gegen den König wurden keine Vorwürfe erhoben, als sei er auch der Opposition sakrosankt. Dagegen wurde die Königin als Tochter eines Rana zum Inbegriff des Bösen, und täglich erneuerten sich Gerüchte, sie habe das Land schon verlassen.
Die gespenstischen Prozessionen der Nacht wiederholten sich ganz selbstverständlich. Nur wurden jetzt eben nicht die Götter auf Laden durch die Straßen getragen, sondern Hoffnungen und Wünsche nach greifbaren Veränderungen.
Am 6. April war wieder Generalstreik: Auf den Straßen waren nur Polizeiautos unterwegs. In Patan und Kathmandu formierten sich Protestzüge, die nun nicht mehr mit traditionellen Prozessionen vergleichbar waren. Nachdem der König am frühen Morgen mit der Absetzung des Premierministers ein vermeintliches Zugeständnis der üblichen Art gemacht hatte, entlud sich alle Enttäuschung spontan in einem Sturm auf den Palast. Solche Beschwichtigung durch den König war jedem sattsam bekannt: Seit 29 Jahren immer das Gleiche - die Minister wurden abgelöst, nur um nach einer gewissen Zeit wieder auf ihren Posten, das heißt in ihre Pfründe, zurückzukehren. Damit war niemand mehr zu beeindrucken. Man war eher entsetzt über soviel Ignoranz.
Beim Marsch auf den Palast schlängelten sich wendige Jugendliche ganz selbstverständlich zwischen den Schilden der Riot-Police hindurch, doch dann schoß das auf den Dächern der Nachbarschaft postierte Militär. Über 40 Opfer blieben auf dem Schlachtfeld. In Bhaktapur wurde die Polizei wie an den Tagen vorher mit Steinen beworfen, doch kam es zu keiner Eskalation. Ohne konkretes Ziel wurden Tränengassalven abgeschossen. Über Lautsprecher bat die Polizei die Menge, das Panchayat-Gebäude erst morgen anzustecken.
Am folgenden Morgen wurde eine Ausgangssperre verhängt, zunächst für Kathmandu und dann auch für Bhaktapur. Im Radio hieß das „curfew„; mit Bedacht hatte man ein englisches Wort gewählt, und nicht auf eine Hindi-Vokabel zurückgegriffen. Das neue Fremdwort mußte erst ausführlich erklärt werden. Da die älteren Frauen der Städte das Nepali nicht verstehen, bestand die Gefahr von Mißverständnissen. Im Nu waren an jeder Straßenkreuzung Maschinengewehre aufgebaut, deren Läufe jeder Bewegung auf den Dächern folgten.
In anderen Gegenden der Welt ist das alles bekannt, im Nahen Osten und in Kambodscha gehört das längst zum Alltag. Aber nachdem Nepal im Jahre 1815 einen Friedens- und Grenzvertrag mit der britischen Krone abgeschlossen hatte, war es im Lande nicht mehr zu Auseinandersetzungen gekommen. Im Gegenteil: Nepal kam den Engländern 1858 mit Gorkha -Regimentern in Indien zu Hilfe, 1917 in den Schützengräben Belgiens, 1944 beim Sturm auf den Monte Casino und zuletzt auf den Falkland-Inseln. Im Lande selbst war nie geschossen worden. Umso fassungsloser standen die Nepalesen vor den Morden im Frühjahr 1990.
Am Ende schossen die Truppen sogar über das Ziel hinaus: Als nämlich am späten Abend des 8. April der König im Radio die Einrichtung eines Mehrparteiensystems ankündigte, stürzten in Kathmandu viele Menschen auf die Straße, um sofort erschosen zu werden. Das Militär hatte die Nachrichten nicht gehört.
Am 9. April kam es zu einer gewaltigen Demonstration der Freude. Schon am frühen Morgen waren die Straßen gesperrt, aber nicht durch Barrikaden oder Militär: Jugendliche mit Farbbeuteln standen dort, um jedem Passanten die Backen mit rotem Pulver zu beschmieren. Das ist der traditionelle Ausdruck von Freude und zugleich Teil eines jeden Rituals. Wenige Stunden später war dann die gesamte Bevölkerung auf den Beinen, vorneweg die Jugendlichen mit Motorradkavalkaden.
Der Sieg wurde selbstverständlich in Einheit gefeiert: Die Flaggen der Kongreß-Partei und der Vereinigten Linken Front mit Hammer und Sichel auf rotem Grund waren immer beisammen. Während nahezu in der gesamten Welt diese traditionsreiche Flagge eingezogen wurde, konnte sie hier zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren gezeigt werden. Beide Fahnen symbolisieren nun die Freiheit. Niemand wußte in diesem Moment, wie die Freiheit aussehen werde und auch heute weiß noch niemand, was die fünf in der United Left Front zusammengeschlossenen kommunistischen Gruppen nun unter Kommunismus verstehen. Während der Tage des Aufstands wurden Parolen gegen die Königin skandiert, der Märtyrer (so heißen jetzt die Opfer) wurde gedacht und den Schuldigen der Henker gewünscht. Außer den Rufen nach Demokratie wurden jedoch keine politischen Parolen und Forderungen laut. Auch nach zwei Monaten hat sich das Bild nicht geklärt.
Am Tage nach dem Jubel kehrte eine ganz selbstverständliche alltägliche Ruhe ein, eine Atempause. Diese Ruhe war zumindest für Bhaktapur notwendig, denn am 11.April begann das Neujahrsfest. Für Bhaktapur ist es das bedeutendste Fest des Jahres, das ohne den äußeren Frieden explosionsartig zu einem Bürgerkrieg hätte werden können. Ein solches Fest nämlich macht sich nicht allein durch eine rote Eintragung im Kalender bemerkbar. Seit Hunderten von Jahren erstreckt sich das Fest über einen heiligen Zeitraum von neun Nächten und acht Tagen: Ein Ereignis von epischer Breite und urtümlicher Kraft, mit Spuren ritualisierter Gewalt.
Das Fest beginnt mit einer Auseinandersetzung, die einem Chaos gleichkommt. Chaos im Zeichen der Krise; denn das Ende des Jahres wird auch als das Ende der Zeit empfunden. Das Ende der Zeit bringt aber auch die Auflösung des sozialen und räumlichen Gefüges über die Stadt - die Welt gerät regelrecht aus den Fugen, und das Ritual ist erdacht, die Zeit zu retten und das Gefüge erneut zu bestätigen.
Jedes Jahr wird auf dem Hauptplatz der Stadt ein hölzerner Wagen mit mannshohen Rädern und feststehender Deichsel neu zusammengefügt. Hat der große „Meister“ der Stadt, Gott Bhairava, in Gestalt einer kleinen Maske darin Platz genommen, ist das Signal für den Beginn eines Wettbewerbs gegeben, der potentiell in einen Kampf münden kann: Der Wagen wird an 30 Meter langen Seilen von Hunderten von Menschen in zwei entgegengesetzte Richtungen gezogen. Jede der beiden historisch, sozial und rituell unterschiedlichen und in Vielem konkurrierenden Stadthälften will den großen Meister Bhairav als Manifestation und Repräsentation der Stadt im eigenen Quartier beherbergen und jede Partei nützt das Mißgeschick eines gerissenen Seiles oder das Rammen eines Tempels als Vorwand zum offenen Kampf. Dann fliegen Ziegelsteine, die allerdings selten den Gegner treffen, sondern die Dächer des Wagens zertrümmern. Ein solcher Kampf bedeutet die Zerstörung der sonst geduldeten Stadtgemeinschaft. Einmal im Jahr werden gewissermaßen alle Konventionen über den Haufen geworfen, um sich danach den Zwängen erneut zu fügen.
In diesem Jahr kam es zu keinem Kampf, der Wagen wurde unverzüglich in die Oberstadt gezogen und alle waren es zufrieden; denn der wirkliche Kampf lag hinter ihnen. Die reibungslose Abwicklung des Rituals wurde sogar als Erleichterung empfunden, die Menschen strahlten. In diesem Jahr fehlte auch die Polizei, die sonst die Stufen des nahen Tempelturmes besetzt hielt und mit dieser Drohgebärde immer Anstoß erregte. Zu Beginn des Tages waren wohl zwei Polizisten erschienen, um die Abnahme der Flaggen vom Tempelwagen zu fordern, doch niemand schenkte ihnen Gehör, und so zogen sie unverrichteter Dinge wieder ab.
Nach einigem Hin und Her zu Beginn des Festes hat der Wagen des Gottes bestimmte Stationen zu passieren, um endlich am Abend des alten Jahres einen großen Festplatz am Flußufer zu erreichen. Dabei vollziehen sich alle Einzelheiten des komplexen Stadtrituals wie ein selbsttätiges Uhrwerk. Es gibt bei all dem keinen Zeremonienmeister und kein Festkomitee. Niemand hat das, was wir „Übersicht“ nennen, nirgendwo laufen die Fäden zusammen.
In meinen über 20 Jahre hinweg notierten Protokollen gewinnt die Gesamtheit des Geschehens langsam Gestalt. Ritual braucht in dieser Ausformung keine „Führung“, weil die Hierarchie des Geschehens und der Akteure eingeübt ist und von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Dynamik ist dadurch gesichert, daß das Ritual geschehen muß. Jeder tut, was getan werden muß. Das ist das Geheimnis dieses Uhrwerks. Allein das Vollbringen des Rituals sichert den Fortbestand der Zeit, nur das Erlebnis des Chaos macht den Neuanfang mit den Zwängen einer Ordnung möglich und auch erträglich.
Sind die Kräfte zum Anfang des Festes auf Auseinandersetzung eingeschworen, so sind sie am Ende des Festes, am Abend des alten Jahres, vereint: Es gilt, den Neujahrsbaum aufzurichten, der die Weltachse symbolisiert und, in einem vielschichtigen Beziehungsgefüge, auch die Kontinuität königlicher Herrschaft. Von der Spitze des Baumes hängen zwei lange Stoffbahnen herab als Repräsentationen zweier Schlangen, die einst die Freier einer Prinzessin verschlangen, bis ein beherzter Prinz sie tötete. So vermischen sich im Verlauf des Festes die verschiedensten Symbole und Legenden von Schöpfung und Vernichtung, Erneuerung und Wiederkehr.
Innerhalb einer Stunde gelang es in diesem Jahr, den 32 Meter langen, mächtigen Baum aufzurichten. Ein Raunen ging durch die vieltausendköpfige Menge. Jeder nickte dem anderen zu: Ja, in diesem Jahr ist alles gut gegangen. Das Gelingen erschien allen als Glück verheißend. Schließlich passierte noch etwas Besonderes: Die jungen Männer, die sonst nur auf den Baum klettern, um zur Bekräftigung eines Wunsches oder eines Gelöbnisses ganz oben ein Geldstück in die Seile zu stecken, trugen dieses Mal auch die Fahnen der Revolution. Nun bewegten sich nicht nur die Schlangenleiber als Symbole eines mythischen Sieges im Wind, sondern auch die Symbole eines eben errungenen Sieges, einer Hoffnung. Und diese Vermischung von Mythischem und Gegenwärtigem ist in Nepal ganz selbstverständlich. Dort gehört das Zeichen von Hammer und Sichel an den Pfeiler der mythischen Welterneuerung.
Die neuen Flaggen wehten aber nicht nur dort. Am folgenden Neujahrstag waren sie auf jeder Tempelspitze zu sehen, und als Transparente waren sie über zahlreiche Straßen gespannt. An der Haupstraße waren zudem Informationsstände aufgebaut und Bilder der Märtyrer waren mit Girlanden geschmückt.
Die demokratische Revolution und die mythische Erneuerung von Zeit und Raum vollzogen sich so eng aufeinander, daß die Geschehnisse in einem Zusammenhang erlebt wurden. Die Erringung der neuen Freiheit und die Bewältigung des uralten, ritualisierten Konfliktes mußten in dieser Weise zusammengehören.
Nun waren Revolution und Neujahr gewissermaßen geschafft. Es folgten lähmende Tage des Wartens, bis der König sich bequemte, eine Übergangsregierung mit einem Premier der Kongreß-Partei einzusetzen. Schon zehn Tage danach wurde das Land durch Gerüchte über rachesuchende Banden der Reaktion in Angst und Schrecken versetzt. Es hieß dann auch gleich, das Trinkwasser sei verseucht und weitere Sabotageakte seien angesagt. Der Hintergrund dieser Gerüchte blieb unklar, aber fortan durchstreiften selbsternannte Wachmannschaften mit Knüppeln und Messern nachts die Stadtviertel.
Nach blutigen Zwischenfällen wurde am 23. April erneut Ausgangssperre verhängt, die sich jedoch nur auf die Nacht erstreckte. Durch die erzwungene Ruhe stellte sich innerhalb von 14 Tagen wieder eine gewisse Normalität her. Die Distriktgouverneure, die für die Ausführung der Schießbefehle verantwortlich gemacht wurden, erhielten ihre Entlassungsschreiben, und der Sports Council, der reaktionäre Prügelkommandos befehligt hatte, wurde aufgelöst. Politische Gefangene wurden aus der Haft entlassen. Während allenthalben wegen Korruption ermittelt wird, wurden bislang nur vier Staatssekretäre entlassen und die Mitglieder des „Apparats“ im Palast entmachtet. Bis heute wurde nicht gegen diejenigen ermittelt, die die Schießbefehle gaben und die Verwendung von Dum-Dum -Geschossen duldeten. Hunderte von Opfern dieser Geschosse können in Nepal nicht einmal medizinisch angemessen behandelt werden.
Der 1.Mai wurde zum Tag der Arbeit ernannt, freilich nur für wirkliche Arbeiter und nicht für Angestellte. Doch streikten zuerst die Angestellten der Fernsehanstalt und setzten auch tatsächlich höhere Gehälter durch. Die Teppichweber dagegen konnten ihre Lohnforderungen nicht durchsetzen.
Auch zwei Monate nach der Revolution bleiben die politischen Kundgebungen ohne Kontur, doch die Hoffnung auf eine gerechte Verteilung der Ressourcen ist nach wie vor groß. Die Verwaltung arbeitet kaum, und die politischen Entscheidungsträger warten auf die Wahlen. Die Presse hat sich langsam aus dem Zugriff des Palastes befreit und ist munter geworden. Und schließlich hat der Premierminister Bhattarai in der ersten Juniwoche die ersehnte Aussöhnung mit Indien zuwege gebracht. Damit sind wichtige Voraussetzungen für eine neue Entwicklung geschaffen.
Im Mai war ich im abgelegensten Winkel des Landes, in Humla: Vierzehn Tage Fußmarsch ein Weg. Nach meiner Rückkehr fragte man mich in Kathmandu unentwegt, ob die Menschen dort die Nachricht von der Umwälzung erreicht habe. Natürlich hatte fast jeder im Radio davon gehört und man weiß, daß die Lehrer im Hauptort des Distriktes demonstriert haben. Aber Demokratie? Niemand kann sich etwas darunter vorstellen. Die stereotype Antwort lautete: „Wir sind arm. Die Lehrer brauchen Hühner und die Polizisten Ziegen. Und die haben sie schon immer zu einem zu niedrigen Preis erpreßt.“ Warum sollte es anders werden? Niemand kann sich vorstellen, was anders werden soll und wie es anders werden soll.
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