: Mauerzeremonien ohne Publikum
■ Gedenkfeiern zum 29.Jahrestag des Mauerbaus / Salbungsvolle Worte und kaum Zuschauer
Mauerstreifen. Szene eins: Mitten in der Ödnis am Potsdamer Platz, unter bleiernem, grauverhangenem Himmel, bei Sprühregen. Ein Knäuel von Menschen versammelt sich um einen Bagger herum, der ein Loch frißt in die leichte Erhebung des Geländes, einen Eingang freischaufeln soll zum angeblichen Führerbunker. Touristenbusse halten, angelockt durch ein riesiges Medienaufgebot und zahlreiche Fernsehkameras. Neugierige Schüler aus Westdeutschland drängeln sich um das etwa drei Meter tiefe Loch. In Anwesenheit des Ostberliner Innenstadtrats Thomas Krüger wird extra für die Medienöffentlichkeit ein Eingang freigebaggert, der gleich anschließend wieder zugeschüttet wird. Der Schauer des Führerbunkers lockt Touristen aus aller Welt an, die stundenlang geduldig warten, bis endlich der Durchbruch gelungen ist - auch wenn es für sie partout nichts zu sehen gibt. Ein amerikanischer Geschäftsreisender erzählt, zu Tränen gerührt, wie er als Student in Berlin den Mauerbau miterlebte. Er sei zufällig auf der Durchreise vom Flughafen Tegel nach Ost-Berlin, und im Taxi sei angesichts der Menschenansammlung im ehemaligen Todesstreifen seine Neugier geweckt worden...
Szenenwechsel: Wenige Tage später, bei unerträglicher Schwüle, einen Kilometer weiter, ebenfalls auf dem Mauerstreifen. Am Mahnmal für den am 17.August 1962 bei einem Fluchtversuch erschossenen Peter Fechter steht wieder eine Gruppe von Journalisten herum. Im Niemandsland zwischen Springer-Hochhaus und Checkpoint Charlie begehen Senat und Magistrat ihre erste gemeinsame Gedenkfeier aus Anlaß des 29.Jahrestages des Mauerbaus. Mit einiger Verspätung trudeln die Vertreter der offiziellen Politik ein, Mitglieder der Fraktionen beider Stadtparlamente, die Stadtverordnetenvorsteherin Christine Bergmann und die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Marianne Brickmeier, Innensenator Pätzold und Oberbürgermeister Schwierzina.
Touristen werden hier kaum angelockt, nur wenige bleiben auf ihrem Spaziergang im Mauerstreifen, den mittlerweile jedes Reisebüro empfiehlt, stehen. Kein Jubel, keine Menschenaufläufe, auch die notorischen Schreihälse, die früher am Checkpoint die Grenzer beschimpften, haben sich offensichtlich damit abgefunden, daß das Objekt ihrer Emotionen nicht mehr steht. Politiker und Journalisten bleiben unter sich und zelebrieren den Gedenktag. Schwierzina schlägt, ebenso wie Pätzold, dem offiziellen Anlaß entsprechend, nachdenkliche Töne an und fragt nach der Verantwortung jedes Einzelnen beim Erhalt der Mauer. Unter einem Trommelwirbel des BVG-Orchesters werden fünf Kränze vor dem Mahnmal niedergelegt - eine Nachrichtenagentur titelt hinterher: „Deutsch-deutsche Kranzniederlegung“. Nach einer halben Stunde ist die Zeremonie vorbei, zurück bleiben nur vier Mitglieder einer schlagenden Verbindung.
Auch an anderen Orten im Mauerstreifen wurden gestern offizielle Gedenkfeiern begangen. Der Abrüstungsminister der DDR, Rainer Eppelmann, weihte eine Gedenkplatte in der Bernauer Straße ein und versprach, daß die Mauer „bis Advent“ abgerissen sei. Bei einer zweiten Feierlichkeit in der Nähe setzten sich Historiker für den Erhalt eines Mauerabschnittes ein und riefen damit prompt den Protest der Anwohner hervor. Der Bezirksbürgermeister Havlicek erklärte, gerade in der Bernauer Straße müsse alles Trennende ersatzlos entfernt werden...
Kordula Doerfler
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