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„Bagatellen“ - Horchen macht keinen Spaß mehr

Lebens-Geschichten von Ernestine Zielke, Schauspielerin / Bisher unveröffentlichte Auszüge / taz-Sommer-Serie, Folge 3  ■  hierhin bitte das

Logo von der Alten

auffem Sarg

Vielen BremerInnen ist sie ein Begriff: Ernestine Zielke, Jahrgang '23, streitbare Bremer (Einfrau-)Schauspielerin und ein Bild von einer „unwürdigen“ Alten mit dieser knallroten Lockenpracht. Seit einiger Zeit schreibt sie an ihren Erinnerungen, aber eine Autobiographie soll es eigentlich nicht sein. Es ist ein Abenteuer, sagt sie, sich in ihrem Alter noch einmal darauf einzulassen, ICH zu sagen. Ihre erinnerten Geschichten stehen jede für sich.

Ich bin immer sehr pünktlich, um das Baby von unserem Nachbarn auszufahren. Mama findet das gut, weil sie so viel arbeiten muß und außerdem, sagt sie, ist es wichtig, daß man sich mit den Nachbarn versteht, besonders auf dem Lande.

Reinekes Grete ist eine nette Frau. Hier spricht man so. Nicht, Grete Reineke, sondern, Reinekes Grete. Ich muß immer lachen, wenn ich das höre. Wenn es geht, bin ich schon früher da, weil ich dann sehen kann, wie das Baby gewickelt wird. In dem Zimmer ist alles unglaublich sauber. Reinekes sind die reichsten Bauern im Dorf. Wir waren auch mal ein bißchen reich. In unserem Laden war ein Riesentresen und sonntags durfte ich im Laden sogar Verstecken spielen. Jetzt haben wir nichts mehr, weil wir die Krise haben und die Leute nicht mehr zahlen können, sagt mein Vater. Nicht mal wöchentlich 50 Pfennig Abzahlung für die Kücheneinrichtung. Bei uns gab es alles, außer Kolonialwaren. Nach der Pleite haben meine Eltern dieses kleine Bauernhaus gekauft, direkt gegenüber von Reinekes.

Das Baby hat ganz weiche Haut. Wenn ich sicher bin, daß mich keiner sieht, gebe ich ihm einen Kuß auf den Mund. Wie sich das anfühlt, kann ich nicht sagen, weil ich immer Angst habe und es so schnell geht. Ich verstehe nicht, warum bei uns nicht geküßt wird, auf den Mund schon gar nicht. Fragen will ich nicht. Wenn wir Besuch bekommen, ist bei uns immer viel Geschrei. Onkel Adam sagt, das sind die Wahnschen Jubelschreie. Vielleicht würde er auch lieber küssen. Mein Vater sagt oft, die Juden haben uns kaputt gemacht. Hör doch auf mit sowas, sagt meine Mutter. Mokri hat uns immer Kredit gegeben, billigen Kredit. Ich meine nicht DEN Juden, sondern DIE Juden, sagt mein Vater. Ostern '33 hat uns Mokri besucht. Mein Vater sagt, wir müssen das Geld auftreiben, sonst kann er nicht nach Italien, vielleicht kann uns dein Bruder was leihen, dann können wir unsere Schulden bei Mokri bezahlen.

Ich weiß das, weil ich abends oft an der Wand horche und höre, was sich meine Eltern erzählen. Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand. Trotzdem! Wenn Hänsel und Gretel nicht gelauscht hätten, hätten sie nicht erfahren, daß ihre Eltern sie aussetzen wollten. Wer weiß, wozu es gut ist. Ich weiß übrigens auch, daß meine Eltern kein Geld mehr haben fürs Lyzeum für mich. Für meine älteren Geschwister reichts man gerade so. Dafür werde ich jetzt viel gelobt, wie intelligent ich bin und wie unwichtig die Höhere Schule ist, wenn man so in die Welt guckt wie ich. Mir solls recht sein. Ich habe sowieso keine Lust auf die Höhere.

Herr Reineke küßt das Baby auch auf den Mund. Er hat einen Bart und große rissige Hände. Es ist sein erstes Kind - ein Mädchen. Er sagt, das macht nichts. Vielleicht hat mein Vater meine älteste Schwester auch auf den Mund geküßt. Horchen macht keinen Spaß mehr.

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