: „Bagatellen“ - Kleine Wellen im Gänsestall
Lebens-Geschichten von Ernestine Zielke, Bremer Schauspielerin / Bisher unveröffentlichte Auszüge / taz-Sommer-Serie, Folge 6 ■ hierhin die Alte
auf dem Sarg
Ernestine Zielke, Jahrgang '23, streitbare Bremer Schauspielerin, schreibt seit einiger Zeit an ihren Erinnerungen. Es ist ein Abenteuer sagt sie, sich in diesem Alter noch einmal auf sein Ich einzulassen.
Jede Geschichte könnte sich genauso ereignet haben'und jede Geschichte kann für sich stehen.
Ich erinnere mich an meine erste Einsamkeit. Nicht nur an ein schmerzliches Gefühl. Ich wußte, daß ich allein war. Ich konnte das denken: ich bin allein. Daß ich es denken konnte, verringerte die panische Angst.
Ich muß vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Meine sieben Jahre ältere Schwester nahm mich manchmal mit zur Badeanstalt. Für die Großen war da ein richtiges Schwimmbecken gebaut, für die Kleinen hatte man den „Gänsestall“ beibehalten. Das war ein Gitterkasten aus Holzlatten, der in den Fluß hineingehängt und vom steilen Ufer durch eine Holzleiter zu erreichen war. In diesem Kasten wurden die Kleinen abgesetzt.
Bei dem Versuch, aus dem Gänsestall zu steigen, war meine Freundin einmal von den glitschigen Leitersprossen abgerutscht und in den Fluß gefallen. Beinahe wäre sie ertrunken. Seitdem war es uns streng verboten, den Gänsestall allein zu verlassen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da saß. Alle anderen Kinder waren abgeholt. Ein paarmal habe ich gerufen, aber die Stille nach dem Rufen gefiel mir noch weniger. Lieber klatschte ich mit den Händen auf das Wasser. Ich strampelte. Ich beobachtete die Fliegen, die auf der Oberfläche durch mein Zimmer flossen. Ich machte leise Wellen. Die Fliegen schaukelten. Dann war die Welle weg.
Es wird meiner Schwester doch auffallen, daß ich nicht auf dem Gepäckträger sitze!
Ich störte sie beim Spielen. Immer mußte sie auf mich aufpassen. Nie konnte sie sich richtig verstecken, weil die Kinderkarre sie verriet. Und ohne die Karre, mit mir an der Hand, war sie zu langsam.
Sie kümmerte sich um mich. Manchmal durfte ich ihre Puppe tragen, besonders dann, wenn die Hoffotografen kamen, denn eigentlich war sie schon zu groß, um sich mit einer Puppe fotografieren zu lassen.
Sie kam irgendwann, holte mich aus dem Stall, rubbelte mich ab. Auf der Heimfahrt klammerte ich mich an ihr fest. Für einen Augenblick vergrößerte sich meine Angst. Ich hätte mich auch an den Teufel geklammert. Ich wäre sogar mit den Zigeunern mitgegangen. Vor Zigeunern hatte man mich immer gewarnt. Wenn sie in der „Masch“ ihre Wagenburg aufgebaut hatten, blieb ich immer in einiger Entfernung stehen. Ich hätte gern mitgespielt. Zigeuner klauen Kinder, hatte man mir gesagt. Ob man als geklautes Kind hätte mitspielen dürfen oder ob man mich eingesperrt hätte, wußte ich nicht.
Wenn sie zu uns in den Laden kamen, war meine Mutter sehr freundlich zu ihnen. Ich verstand nicht, wie man zu Kinderklauern so freundlich sein konnte. Alle sind nicht so sagte meine Mutter, aber geh nicht zu ihnen.
Als wir an ihnen vorbeifuhren, sagte meine Schwester: Hab keine Angst, ich passe auf dich auf.
Ich hatte gar keine Angst.
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