: Aufstand der Vögelfreien: Die Sex-Revolution formiert sich
■ Auf einem Walsroder Zeltplatz proben 600 Menschen „freie Liebe“ / Dieter Duhm plant Bündnis mit „Neuem Forum“
Dort, wo Deutschland am flachsten ist, ziemlich oben im Norddeutschen, 10 Kilometer vom Autobahndreieck Walsrode liegt Vethem. Ein paar Dutzend Menschen leben hier als soziale Randgruppe in blankgeputzten Rotstein-Häuschen hinter prallen Petunien- und Geranien-Kästen in friedlicher Gemeinschaft mit der Bevölkerungsmehrheit unzähliger Gartenzwerge.
52 Wochen im Jahr haben sich die Vethemer vermutlich auch nichts anderes zu erzählen als an anderen Dorf-Stammtischen. Aber seit 10 Tagen ist in Vethem alles anders. Seit 10 Tagen wird in Vethem die erste soziale Revolution in der Menschheitsgeschichte vorbereitet, die ihren Namen verdient. Es werden strategische Bündnisse für die ökologische Umwälzung der Welt und die sexuelle Befreiung der Individuen angebahnt und zellenartige Bewegungen für „den neuen Menschen“ gegründet und gesamtdeutsche Zusammenarbeiten vereinbart, mit dem Neuen Forum z.B., oder wenigstens öffentlich in Aussicht gestellt. Mit Greenpace etwa oder amnesty international.
Was die Bastille für Paris bedeutet, das Winterpalais des Zaren für Petersburg, das ist für Vethem der Zeltplatz: Zwischen fetten norddeutschen Wiesen und idyllischen Fischteichen liegt am Ende einer kleinen Stichstraße die erste Eroberung der neuen Bewegung. Ein paar Hektar befreites Gebiet in einer (noch) feindlichen Welt. Befreit von Kleinbürgermoral und Monogamie-Zwängen, von Eifersuchtsszenen und Impotenz-Ängsten.
In letzter Instanz entschied das Oberverwaltungsgericht Hamm Anfang dieses Monats, der Zeltplatz sei dem „Projekt Meiga - Experiment für eine humane Erde“ vertragsgemäß 14 Tage lang zur Verfügung zu stellen. Die Richter hatten die Selbstdarstellung der Veranstalter und Platz-Mieter immer noch für wahrscheinlicher gehalten als die plötzlichen Skrupel des Vermieters und ortsansässigen Geschäftsführers der Jugendorganisation „Falken“ namens Schatschneider: Während Fritz Schatschneider den bereits unterschriebenen Mietvertrag (14-Tage-Miete 42.000 Mark) kurzfristig für unwirksam erklärt und sich
zur Begründung auf Gerüchte und Zeitungsartikel bezogen hatte, die von öffentlichen Gruppen- und Kindersex -Veranstaltungen seiner Mieter wissen wollten, von bordellartigen Betrieben und „Computer-Ficklisten“, hielten die Richter bis zum Beweis des Gegenteils für wahrscheinlicher, was sie in den offiziellen Veranstaltungs -Ankündigungen gelesen hatten: „Meiga“ alias „Aktion Perestroika“ alias „Jetzt e.V.“ alias „Zentrum für eine experimentelle Geselschaftsgestaltung - ZEGG“ suche nichts weiter als ein neues Modell für „die Gesellschaft der Zukunft“ und ein „neues Konzept der Liebe“. Damit war höchstrichterlich klar: Wer mitsuchen wollte und für 7 Tage und Nächte im Zelt 600 Mark bezahlen konnte, durfte. Es wollten viele.
Vor der Schranke, die Zelt- und zughörigen Parkplatz trennt, stehen Autos aus der ganzen Bundesrepublik in Reih und Glied. Aus Lörrach und Freiburg, Karlshafen und München, sogar aus der Schweiz und der DDR haben sich ingesamt 600 Teilnehmer aufgemacht nach Vethem, an dessen Feldrainen „erlöste Sexualität“ und „die Lösung der Eifersuchtsdramen“ wachsen müssen wie die Begonien in den Vethemer Vorgarten -Rabatten.
Morgens beginnt der Tag mit
der „Einstimmung“, dann Frühstück in den Zeltdorf-Gruppen, die mit rotweißem Flatterband wie Unfallstellen voneinander abgegrenzt sind. Um 11 Uhr erstes Plenum im großen Rundzelt mit anschließender Nachbereitung in den Zeltgruppen, Mittagspause bis 15 Uhr, dann alternativ Volley- oder Basketball, Kunstaktionen, Workshops für Tanz und Körpererfahrung oder Spezialthemen-Gruppen. Abends zweites Plenum. Um 1.00 Uhr beginnt offiziell die Nacht - ohne offizielles Programm.
Ab 10.30 dröhnt Softrock über den Platz. Mit schläfrig -entspannten Gesichtern und nackten Füßen schlendern Leute zwischen Gemeinschaftswaschräumen und Viermann-Zelt durch die Morgensonne, manche kommen vom Baden im nahen Teich. Lächelnd winkt man sich aus der Ferne zu, tritt kurz zusammen auf ein paar Sätze oder eine kurze Umarmung, bleibt kurz stehen vor dem Tagesablaufplan oder dem Bazarzelt, das „besten Wein“ und „selbstgemachte Aphrodisiaca“ verspricht. Allmählich füllt sich das Großzelt. Man setzt einen Fuß auf die Holzbank und zieht das Knie unters Kinn. Eine Band kopiert Konstantin Wecker live: „Wer nicht genießt, ist ungenießbar“. Und dann kommt er. Ganz in schwarz tritt er auf die Kanzel, die in Wirklich
keit ein einfaches Redenerpult ist. Schwarz das Hemd, schwarz die Hose, einstmals schwarz die Haare, schwarz die Stimme. Dieter Duhm, „unser immer noch genialster Denker, Maler und Schriftsteller,“ wie ihn eine junge Frau später vorstellen wird.
Einige zucken zusamen.sprechen Zu laut, zu scharf ist der Ton des 'meisters nach der vielköpfigen Nacht „erlöster Sexualität“. Dann verstehen sie, lehnen sich erleichtert zurück: Duhm spricht nicht von ihnen, Duhms Zorn gilt anderen: „Seit einer Woche sehen wir uns jetzt einer ungeheuren Schlammschlacht der Presse aussgesetzt. Eine Woche hat man uns gezwungen, uns mit den widerlichsten Unterstellungen herumzuschlagen, statt unseren wirklichen Fragen nachzugehen.“ Eine Reporterin vom Pflasterstand z.B. Die habe tatsächlich von ihm wissen wollen, ob sie hier in ein „Umerziehungslager für den neuen Menschen geraten“ sei. „Liebe Freunde, versteht mich, daß ich da aus der Haut gefahren bin und bereue, nicht noch mehr aus der Haut gefahren zu sein.“
Einer meldet sich, bittet erst ums Wort und dann um Gnade für den Pflasterstrand. Er berichtet mit Dankbarkeit in der Stimme, wie schlecht es ihm noch ging, bevor er ins Camp kam, und wie gut es ihm jetzt geht. Dann sagt er:
„Dieter, sieh, diese Frau - sie kann nichts dafür. Sie weiß nicht, welche Kraft man aus seinem Inneren schöpfen kann. Sie kann sich Veränderung nur in 'Umerziehungslagern‘ vorstellen. Wir sollten ihr verzeihen.“ „Du hast etwas tief Humanes gesagt, ich danke Dir dafür“. Duhm packt die eben noch zornrote Stimme in Samt. „Ich werde dieser Frau nicht unsere Anwälte auf den Hals hetzten, ich werde ihr einen Blumenstrauß schicken.“ Das Zelt tut das, was es immer tut, wenn einer fertig ist mit reden. Aber diesmal heftiger. Es klatscht frenetisch Beifall.
Was es nicht mit hört und auch nicht hören soll, sagt Duhm zwei Stunden später bei der Tagesstrategie-Planung im vierköpfigen Kreis seiner engsten Vertrauten: „Dieser humanistische Typ hat mich nach dem Plenum um ein Gespräch gebeten. Ich hab ihn abgewimmelt. Aber irgendjemand muß ihn abfertigen.“
In den Dorfgruppen wird derweil das Plenum „nachbereitet“. Andere inspizieren das Bazarzelt: Duhm-Vorträge auf Video -Kassette, Duhm-Vorträge auf Ton-Cassette, Duhm-Vorträge broschiert, Duhm-Vorträge gebunden, Duhm-Ölgemälde im Postkartenformat, Duhm-Gemälde im Bildbandformat, Duhm -Fotos. Duhm vögelt mit einer Frau, Duhm vögelt mit zwei Frauen, Duhm vögelt mit drei Frauen. Duhm vögelt von hinten, Duhm vögelt von vorn, Duhm vögelt doch lieber von hinten.
Beim Blättern zu zweit fallen den Menschen ihre Probleme ein: „Jede Nacht eine andere, das ist ja irgendwie ganz toll“, sagt einer leise. „Aber allmählich weiß ich gar nicht mehr, ob ich eigentlich noch gemeint bin. „Ja“, antwortet eine Frau, „ich habe auch echt Probleme.“ Und dann zuckt sie resigniert die Achseln: „Ich bin persönlich eben noch nicht so weit“.
„Persönlich Weitergebracht“ wird täglich nachmittags in den „Spezialgruppen“. „Frauen fragen Frauen“ lauten die Motti. Oder: „Frauen fragen Männer“. Oder: „Männer fragen Männer“. Im kleinen Gruppenzelt bekennt eine Frau, wie weit sie ist und wie weit noch nicht. Ihr Typ geht fremd. Ziemlich oft, sagt sie. Damit kann sie leben, sagt sie. Aber mit der Angst vor Aids? Damit
noch nicht. Darf sie darauf bestehen, daß er bei den anderen Kondome benutzt? Nein, wwird sie beschieden, natürlich nicht. Verlangen darf man in einer befreiten Liebe gar nichts. Was sie tun soll? Mit den Frauen ihres Typen selbst eine sexuelle Beziehung aufbauen! „Dabei wirst Du herausfinden, ob Du zu recht Angst hast vor ihnen und vor Aids.“ Die nächste bitte.
Die nächste ist so „weit“, morgens öfter mit neuen Männern aufzuwachen. Schön sei das schon, aber eben nur bis ihr Kind an der Bettkante steht. Was soll sie tun? Den Mann rausschmeißen? Das Kind wegschicken? Nein. „Am besten, Du versuchst, Dein Kind in das Liebesspiel miteinzubeziehen!“ Die Frau fragt nicht, wie. Die nächste ist dran.
Im Zelt gegenüber stellt gleichzeitig eine offizielle Delegierte des Neuen Forums aus Leipzig die Reste der DDR -Bürgerrechtsbewegung vor. Über ihr Kommen hatte sich die Dieter Duhm morgens beim Plenum „ganz besonders gefreut“. Sie selbst sieht wenig Grund zur Freude. Längst sei auch in der DDR die politische Aufbruchstimmung in parteihierarchischen Strukturen erstarrt, alle Phantasie und Sensibilität von den Sachzwängen des Entscheidenmüssens aufgefressen. „Was ihr könnt, ist bei uns noch gar nicht entdeckt oder schon wieder abhandengekommen. Eine Politik der Zärtlichkeit und Geschlechtlichkeit, die die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht die Sachzwänge.“ Sie hat den kleinen Finger gegeben und ist begeistert, als die ganze Hand abgerissen wird. „Wann können wir uns im Namen des Neuen Forums in Leipzig oder Berlin vorstellen?“ fragt eine von denen, die vorher unter 10 Augen mit Duhm die Tagesstrategie geplant hat. „Jederzeit.“ Und dann fügt sie einen Satz an, der zwar weniger „tief human“ klingt als die morgens im Zelt-Plenum, für den sie der Meister aber bestimmt nicht abgewimmelt hätte. Für Duhm dürfte er der wichtigste Satz des Tages überhaupt gewesen sein: „Und ich soll euch alle ganz herzlich von Bärbel Bohley grüßen, die gern mitgekommen wäre, aber für diesmal noch durch den Wahlkampf verhindert ist.“
Klaus Schloesser
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