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Außenseiter des Klans

■ Der philippinische Filmemacher Raymond Red zu Besuch im Arsenal

Ein junger Mann zieht um, weil es ihm in seiner alten Wohnung zu laut geworden war. Als er sein neues Zimmer betritt, liegt dort unerwartet, im zweiten Bett, ein Mitbewohner. Die Vermieterin zuckt mit den Schultern, er müsse sich halt irgendwie an den anderen gewöhnen. Der Zimmernachbar ist schwer krank, hustet ständig, und das stört den jungen Mann noch viel mehr als zuvor der Lärm in der anderen Wohnung. Er will endlich alleine sein und seine Ruhe haben, vor Vermietern und immer gesellig beieinander gluckenden Nachbarn. Eines Tages kommt er zurück nach Hause und findet das zweite Bett leer: Der Zimmernachbar ist fort

-vielleicht gestorben oder in ein Krankenhaus eingeliefert worden, weil sich niemand um ihn gekümmert hat. Zum ersten Mal hat der junge Mann das Zimmer ganz für sich allein. Aber er kann die Stille nicht ertragen und zieht aus.

Die Figur des Einzelgängers taucht nicht nur in Kamada („Seinszustand“), sondern auch in den anderen Filmen von Raymond Red auf. Es sind Nachbarn, Väter, Arbeitskollegen, die jenseits der Zimmerwand, auf der anderen Seite der Wahrnehmung leben. Die anderen verstehen die Bedürfnisse und Fragen des jungen Mannes in seinen verschiedenen Rollen nicht. Manchmal reagieren sie aggressiv und schreien ihn an. Der junge Mann in Raymond Reds Filmen unternimmt seiner Physiognomie oder Professionalität entsprechende Fluchtversuche aus der Welt der anderen: Der Student mit der schlechten Haltung in Kamada zieht ruhelos von einer Wohnung in die andere; der Angestellte in Pepe sucht nach einem sinnstiftenden Ausweg aus dem labyrinthischen Bürogebäude; der sportliche junge Gott in Study for the Skies versucht - wie Ikarus - zu fliegen. Allen Filmhelden gemeinsam ist ihr Scheitern, das aber immer genug Rätsel aufgibt, um im nächsten Film einen neuen Fluchtversuch zu unternehmen. Angesiedelt sind die Helden in der Atmosphäre am Rande eines Klans (der Familie oder etwas Abstrakterem), in der Mitgliedschaft und endgültiger Abschied gleichermaßen unerträglich erscheinen.

Besonders in seinen frühen Super-8-Filmen gelingt es Raymond Red, Innenräume mit dem Gefühl des „Dazwischen“ aufzunehmen. Man hört den schweren, tropischen Regen und erwartet, daß sich das Draußen demnächst tröpfelnd ins Zimmer drängt. Die geschlossenen Jalousien halten nur mühsam und gebrochen die gleißende Hitze zurück. Die BBC-News aus dem Kurzwellenradio schaffen einen unmerklichen Übergang vom Wachzustand in den Alptraum. Überhaupt scheint der Schlaf auf den Philippinen viel größere Entfernungen als in den kalten Regionen der Erde zurücklegen zu müssen, bevor er tief, schwarz und bewußtlos wird. Aus dieser schwer zugänglichen Zone werden dem Betrachter von Raymond Reds Filmen manche geheime Nachrichten übermittelt; Erinnerungen an merkwürdige Begebenheiten auf den Philippinen, von denen Weitgereiste hin und wieder erzählen.

Red gehört zum „Independent Cinema“ der Philippinen, einer politisch engagierten Gegenbewegung zum kommerziellen Kino, die auch international immer häufiger von sich reden macht. Seit Februar dieses Jahres lebt und arbeitet er als DAAD-Stipendiat in Berlin. Anläßlich seines Besuches zeigt das Kino Arsenal eine Reihe philippinischer Filme, hübsch betitelt mit Melodram und Politik. Bei dieser Gelegenheit sollte man sich unbedingt auch Kidlat Tahimiks Der parfürmierte Alptraum anschauen.

Dorothee Wenner

Die Filme von Raymond Red werden Mi., den 5.9. um 20 Uhr gezeigt, Der parfümierte Alptraum (1976/77) von Kidlat Tahimik am Mo., den 10.9. um 22.15 Uhr.

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