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Im übrigen gilt BRD-Recht

■ Der Einigungsvertrag zum Umgang mit den Stasi-Unterlagen

DOKUMENTATION

Während die Volkskammer in dem von ihr verabschiedeten Gesetz über die Stasi-Akten die umfassende „politische, historische und juristische“ Aufarbeitung der Stasi -Vergangenheit festschreiben wollte, enthalten die angeblichen Kompromißformulierungen im Staatsvertrag nichts weiter als eine sofortige Ermächtigung für die Bundesregierung zur Benutzung der Akten nach ihrem Gusto. Später, man darf annehmen möglichst spät, soll ein Gesetz das weitere Verfahren regeln. Bis dahin dürfen diejenigen, über die Akten angelegt wurden, diese nicht einsehen, sie müssen sich mit vagen „Auskünften“ begnügen. Die bundesdeutschen Geheimdienste können die Durchsicht dieser Akten „im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben“ beginnen. Im folgenden dokumentieren wir den entsprechenden Passus des Staatsvertrages und einen Antrag der Bürgerrechtsgruppen in der DDR an die Volkskammer, den Einigungsvertrag so lange auszusetzen, bis die Beschlüsse der Volkskammer in dieser Sache durchgesetzt sind.

Anlage I, Kapitel II:

Die vom ehemaligen Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik rechts- und verfassungswidrig gewonnenen personenbezogenen Informationen betreffen eine Vielzahl von Bürgern aus ganz Deutschland. Die Aufbewahrung, Nutzung und Sicherung dieser Unterlagen bedarf wegen der damit verbundenen erheblichen Eingriffe in Grundrechtspositionen einer umfassenden gesetzlichen Regelung durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber. Die Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften, dabei die Grundsätze zu berücksichtigen, wie sie in dem von der Volkskammer am 24. August 1990 verabschiedeten Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit zum Ausdruck gekommen sind. Bis dahin gelten vom Wirksamwerden des Beitritts an:

Paragraph 1:

(1) Die Dateien und Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, die personenbezogene Daten enthalten, sind bis zu einer endgültigen gesetzlichen Regelung durch einen Sonderbeauftragten der Bundesregierung in sichere Verwahrung zu nehmen und gegen unbefugten Zugriff zu sichern. Der Sonderbeauftragte wird auf Vorschlag des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, der der Zustimmung der Volkskammer bedarf, bis spätestens zum 2. Oktober 1990 von der Bundesregierung berufen. Sein Ständiger Vertreter ist der Präsident des Bundesarchives.

(2) Der Sonderbeauftragte ist in der Ausübung dieses Amtes unabhängig und untersteht der Rechtsaufsicht der Bundesregierung. Er ist speichernde Stelle im Sinne des Bundesdatenschutzgesetzes.

(3) Der Sonderbeauftragte wird durch einen von der Bundesregierung zu bestellenden Beirat beraten. Der Beirat besteht aus fünf Personen, von denen mindestens drei ihren Hauptwohnsitz zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet haben müssen.

(4) Der Sonderbeauftragte wird bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben durch das Bundesarchiv und den Bundesbeauftragten für den Datenschutz unterstützt. In wichtigen Angelegenheiten ist der Bundesbeauftragte für den Datenschutz vorher zu hören.

Paragraph 2:

(1) Die in Paragraph 1 genannten Dateien und Unterlagen sind gesperrt. Ihre Löschung ist unzulässig. Die Lagerung erfolgt zentral in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet. Die personenbezogenen Daten dürfen nur für folgende Zwecke übermittelt und genutzt werden, soweit dies unerläßlich und nicht bis zu einer abschließenden gesetzlichen Regelung aufschiebbar ist: 1. für Zwecke der Wiedergutmachung und der Rehabilitierung von Betroffenen, 2. zur Feststellung einer offiziellen oder inoffiziellen Tätigkeit für das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik, und zwar

a) für die Überprüfung von Abgeordneten und Kandidaten für parlamentarische Mandate mit Zustimmung der Betroffenen,

b) für die Weiterverwendung von Personen im öffentlichen Dienst (Anlage I Kapitel XIX Abschnitt III Nr.1) mit deren Kenntnis und

c) für die Einstellung von Personen in den öffentlichen Dienst und für Sicherheitsüberprüfungen mit Zustimmung der Betroffenen, 3. zur Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und 4. zur Aufklärung und Verfolgung der in Artikel 1 Paragraph 2 Abs.1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 des Grundgesetzes) genannten Straftaten durch Strafverfolgungsbehörden und andere Behörden im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben.

(2) Der Sonderbeauftragte darf für diese Zwecke an die zuständigen Stellen Auskünfte erteilen. Die Herausgabe von Unterlagen und die Einsicht in Unterlagen ist nur in dem erforderlichen Umfang und nur soweit zulässig, wie die Erteilung von Auskünften für den Zweck nicht ausreicht. Der Empfänger darf die Daten nur zu dem Zweck verarbeiten und nutzen, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Sind die benötigten personenbezogenen Daten mit weiteren Daten des Betroffenen oder eines Dritten in Akten so verbunden, daß eine Trennung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist, ist die Herausgabe von Unterlagen oder die Einsichtgewährung auch hinsichtlich dieser Daten zulässig, soweit nicht berechtigte Interessen des Betroffenen oder des Dritten an deren Geheimhaltung überwiegen; eine Nutzung dieser Daten ist unzulässig.

Paragraph 3:

Den Betroffenen ist für die in Paragraph 2 Abs.1 Nr.1 genannten Zwecke sowie zur Abwehr einer gegenwärtigen oder drohenden Verletzung ihres Persönlichkeitsrechtes Auskunft über die zu ihrer Person vorhandenen Daten zu erteilen, soweit dies zur Verfolgung ihrer Rechte unerläßlich und unaufschiebbar ist. Die Auskunft ist so zu erteilen, daß überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter nicht beeinträchtigt werden.

Paragraph 4:

Der Umgang mit den vorhandenen Dateien und Unterlagen, insbesondere ihre Sicherung gegen unbefugten Zugriff, ihre Nutzung und die Auskunftserteilung an Betroffene unterliegen der Kontrolle des Bundesbeauftragten für den Datenschutz.

Paragraph 5:

Im übrigen gelten die Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes.

Die Bürgerrechtsgruppen dazu (Auszüge):

Es ist festzustellen: Die im Einigungsvertrag gefundene Formulierung läßt die Möglichkeit offen, das Volkskammergesetz vom 24. 8. 1990 sowie den von allen Fraktionen getragenen Beschluß vom 30. 8. 1990 außer Kraft zu setzen. Nachdem die Volkskammer festgelegt hatte, daß dieser Aktenbestand als Sonderarchiv des Landes Berlin beziehungsweise in den Sonderarchiven der fünf Länder auf dem Gebiet der noch-DDR zu verwalten sei, bestand hier kein weiterer Regelungsbedarf, außer der Festlegung, daß es sich um fortgeltendes Recht handele, das auch nach dem 3.10.1990 weiter in Kraft bleiben muß.

Wir stellen fest, daß zum zweiten Mal von der DDR-Regierung der Gesetzgebung der Volkskammer zuwidergehandelt, die Autorität des Parlaments sowie die Interessen der Betroffenen mißachtet wurden. Für den Einigungsprozeß bedeutet dieses Vorgehen einen Rückschlag. Der Einigungsvertrag hat dadurch eine Gestalt angenommen, die es nicht mehr erlaubt, ihn im üblichen Geschäftsgang in der Volkskammer zu behandeln. Das Präsidium der Volkskammer darf es nicht zulassen, Vorlagen einzubringen, deren Inhalt im Widerspruch zur Eigengesetzgebung steht.

Wir sprechen die Erwartung aus, daß der für diesen Vorgang verantwortliche Staatssekretär Krause sofort von seinem Posten abberufen und die Behandlung des Einigungsvertrages solange ausgesetzt wird, bis den Beschlüssen der Volkskammer Rechnung getragen worden ist.

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