: Sinnlose Gewalt lähmt Südafrika
26 Tote und mehr als 100 Verletzte nach dem Blutbad in einem Zug vor Johannesburg/ Nelson Mandela spricht von „bezahlten Todesschwadronen“/ Regierung plant „zusätzliche Maßnahmen“ ■ Aus Johannesburg Hans Brandt
Südafrikas Präsident de Klerk und Nelson Mandela, Vizepräsident des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), haben sich am Freitag zu einem Krisengespräch getroffen, um die andauernde Gewaltwelle in und um Johannesburg zu diskutieren. Das Treffen folgt auf einen grausamen Angriff auf Zugpassagiere am Donnerstag in Johannesburg, bei dem 26 Menschen ums Leben kamen. Mehr als 100 Menschen wurden verletzt, als zwei Banden schwer bewaffneter Jugendlicher am Donnerstag abend Passagiere auf einem Vorstadtzug in Johannesburg angriffen. Betende Frauen, Männer auf dem Weg nach Hause wurden wahllos erstochen, aus nächster Nähe erschossen, mit Macheten zerhackt. Dutzende wurden verletzt, als sie in der Panik durch Fenster und Türen aus dem fahrenden Zug sprangen. Wenige Bahnhöfe später, in einem Industriegebiet östlich der Innenstadt, verließen die Angreifer den Zug und verschwanden in der Dunkelheit. Der Angriff war wahllos, brutal, ohne politische Motivation — wie verschiedene andere Angriffe in Johannesburg und Umgebung in den letzten Tagen. Am Mittwoch abend wurden im Zentrum der Stadt drei Menschen getötet, als auf an Bushaltestellen Wartende das Feuer eröffnet wurde. Seit Mitte August sind in der blutigsten Welle der Gewalt in Südafrikas Geschichte mehr als 750 Menschen in der Region um Johannesburg bei Kämpfen ermordet worden. Wurzel des Konfliktes ist die politische Rivalität zwischen der konservativen Zulu-Organisation Inkatha und dem ANC. Doch Mandela machte am Donnerstag „bezahlte Todesschwadronen“ für den Zugangriff verantwortlich. Er warnte erneut, daß ANC-Anhänger immer nachdrücklicher Waffen forderten, um sich gegen Angriffe verteidigen zu können. „Wir werden große Schwierigkeiten haben, solchen Forderungen Widerstand zu leisten“, sagte Mandela.
De Klerk kündigte in einer in der Nacht veröffentlichten Erklärung an, die Regierung werde zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um der Gewalt Herr zu werden. Einzelheiten sollen Anfang nächster Woche bekanntgemacht werden. „Das Land ist an einem Wendepunkt“, warnte er. „Das neue Südafrika wird von den jüngsten Ereignissen gefährdet.“ De Klerk betonte jedoch, die Regierung werde nicht zulassen, daß das Land „in Anarchie versinkt“.
Die Stimmung im Land ist bedrückt. ANC-Vertreter sind ratlos und rufen verzweifelt zum Einsatz von mehr Militär in den Ghettos auf — obwohl gleichzeitig schwere Vorwürfe vor allem gegen die Polizei erhoben werden. Es ist deutlich, daß Provokateure durch das sinnlose Blutvergießen den Friedensprozeß torpedieren wollen. Immer wieder berichten Augenzeugen von Weißen, die an Angriffen beteiligt sind.
In einer Slumsiedlung bei Thokoza, einem Schwarzenghetto östlich von Johannesburg, wollen Bewohner sogar die Leiche eines Weißen gesehen haben. Angeblich soll in der Kleidung des Toten ein Polizeiausweis gefunden worden sein. Die Polizei bestreitet, daß Weiße in den Kämpfen umgekommen sind.
Die Johannesburger Tageszeitung 'The Star‘ forderte am Mittwoch in einem Leitartikel auf Seite 1 den Einsatz einer unabhängigen Überwachungstruppe, die unparteiisch in Ghettos patrouillieren und Vorwürfe aller Beteiligten prüfen könnte. Die regierungsnahe Tageszeitung 'Business Day‘ schlug am Donnerstag die Verhängung von Ausgangssperren und die Inhaftierung Hunderter von Kämpfern vor. Diese sollten in Gefangenenlagern, die von der UNO oder Menschenrechtsgruppen überwacht würden, festgehalten werden. Die südafrikanische Regierung selbst hatte die UNO vorgestern in einem Brief aufgefordert, sich für Gespräche zwischen Inkatha und ANC einzusetzen.
Die Kämpfe haben das tägliche Leben von Millionen von Schwarzen in der Region um Johannesburg schwer beeinträchtigt. Aus Angst vor Angriffen sind die Passagierzahlen auf Zügen um 40 Prozent zurückgegangen. Doch auch Sammeltaxen sind nicht mehr sicher — mehrfach sind wartende Menschen an Taxihaltestellen angegriffen worden. Kinder aus den umkämpften Ghettos werden zu Verwandten aufs Land geschickt. Jede Nacht schlafen Tausende in Krankenhäusern und Kirchen. Arbeitende Männer gehen nicht zur Arbeit, um ihre Häuser zu schützen. Das heißt oft Kündigung.
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