: Erlebnisraum Film
■ Musikfilme im Tempodrom
Im endlosen Meer der ewigen Illusionen nahm das Kino von Anfang an einen besonderen Platz ein. Das Schicksal des Kinos war die Lüge, und bis heute strömen Abertausende in die Lichtspielsäle, um sich der süßen Verarschung zu ergeben. Trotzdem hat das Kino, wie wir es kennen, die rüde, willkürliche, aber letztlich auch verschämte Bilderimplantation im Dunkeln, seine Grenze erreicht. Der nüchterne Typ (»Kino ist eine Leinwand, auf die ich bis zu zweieinhalb Stunden draufgucke«) wird dieser Tage irritiert, ja genervt im Kino sitzen, denn Kino ist jetzt mehr! So lange wurde an der Zweidimensionalität des Films herumgemeckert, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis das neue Quartier zum mehrspurigen kulturellen Knockout einlud. Tschibo hat mit dem erfolgreichen Verkauf von Tennisschlägern und Uhren vorgemacht, was momentan im Quartier und im Tempodrom passiert: breites Angebot, ganzheitlicher Konsum. Während das Quartier seine Besucher in ausgelassene Vorkriegsstimmung versetzt, fährt das Tempodrom gleich siebzig Jahre Musikgeschichte auf.
Die ersten dreißig Jahre, ob im Film oder in Form nostalgischen Kleinkunstschnickschnacks vor Augen geführt, liegen schon hinter uns. Heute beginnt nun der angenehme Teil:
60er Jahre, Donnerstag: Musik hoch Droge — auf Ken Keseys Acid- Test-Partys zum ersten Mal als sinnlicher Nonstop-Overkill durchgeführt — liegt überhaupt der Tempodrom-Veranstaltung (zumindest) als Idee zugrunde. Heute steht das Erlebnisraumkonzept auf vielen Füßen, auch wenn immer die Beatles und die Rolling Stones als Sixties- Repräsentanten herhalten müssen. Yellow Submarine war hauptsächlich bahnbrechend, weil Popstars sich endlich mit Comicfiguren identifizierten, aber Stones in the Park ist ein historisches Dokument: Es heißt, daß Mick Jagger beim Konzert im Hyde Park nach Aufwiegelung des Publikums durch I can't get no satisfaction die Entscheidung darüber fällen konnte, ob er die Leute mit Streetfighting man jetzt gleich auf die Straße losläßt oder lieber die Party ausruft. Letzteres hat er getan, weshalb wir heute ja auch ins Tempodrom gehen, um sein Werk weiter zur Vollendung zu treiben. Zwecks größerer Beanspruchung unserer Wahrnehmung und weil die Who damals noch keinen Film gemacht hatten, spielt außerdem die Berliner Modband »the what ... for!«, und auf Video turnen die Monkees, ein unterschätztes Ami-Beatles-Plagiat, herum. Damals beliebte Freizeitaktivitäten wie Vietnamdemos und Love-ins (?) sollen eine fröhliche Nachahmung erfahren. Sicher wird aber alles daran scheitern, daß die Veranstalter sich nicht trauen, eine bestimmte Sorte Orangensaft frei auszuteilen.
70er Jahre, Freitag: Nach Kandelabern, Kronleuchtern und kurz vor der kleinen Taschenlampe steht dieses Jahrzehnt ganz im Zeichen der Diskokugel. Und der beste Film der ganzen Reihe wird gezeigt. Wer Superfly noch nicht gesehen hat, traut sich nicht, das zuzugeben, und schwärmt zur Sicherheit schon mal vorab. Schwärmtips: »So 'n Auto müßte man haben«, oder: »Mensch, wie da Gettostudie mit Stil und Geschmack antirassistisch aufbereitet wird, das hatte doch damals keiner Hollywood zugetraut« (obwohl das ja schon der zweite Blaxploitation- Film von einem Major war), oder: »Ach, Shaft haste noch nicht gesehen? Da ist der Soundtrack aber auch von Isaac Hayes und Curtis Mayfield, der hat einfach mehr Eier ...« usw. Superfly ist übrigens kein Film für Kiffer, aber Kotelettenträger können sich nach zwei Jahren Stylingstagnation ein letztes Mal hip fühlen.
80er Jahre, Samstag: Was wäre New Wave ohne leerstehende Fabrikhallen? Blixa Bargeld & Co hätten ihren Film 1/2 Mensch nicht drehen können, und niemand hätte es bemerkt. Bei der Zerschlagung des utopischen Anspruchs wirken selbstvergessen auch die Goldenen Zitronen und die Sex Pistols mit. Drogen sind am Samstag überflüssig.
90er Jahre, Sonntag: Die Lasershow als Sinnbild des Fortschritts fehlt leider, dafür beschließt eine Cyberspace-Party die alles in allem noch mühevolle Zeitreise mit dem Versprechen, daß das alles in naher Zukunft mit Hilfe Timothy Learys und einiger Biosoftware-Stecker im Kopf zur naturgewordenen Zerstreuung des Menschen gehören wird. Statt »tune in« heißt es jetzt »entry«, und die computerunterstützte Gehirnzapfung wird bestimmt vertont durch langweilige Elektromusik. Leary hat schon einmal geirrt, aber im Soundtrack des Lebens haben auch falsche Töne ihren Platz. and Mary
Bis Sonntag 11.000 Meter Musik im Tempodrom.
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