: Sowjetbürger müssen Gürtel enger schnallen
Die Debatte um die Wirtschaftsreform in der UdSSR ist eng mit der Debatte um einen neuen Unionsvertrag verknüpft ■ Aus Moskau K.H. Donath
„Die Dinge ereignen sich so schnell, daß man Schwierigkeiten hat, seine eigene Meinung darauf einzustellen“, erklärte kürzlich einmal der Vorsitzende der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“. Bei den noch Regierenden gehe jedoch dieser Meinungswandel viel zu langsam vor sich. Die Politiker sind angesichts des Entscheidungsdrucks überfordert. Das verdeutlicht die Debatte im Obersten Sowjet der UdSSR, die über den „richtigen“ Weg in die Marktwirtschaft befinden soll. Verzögert man dort die Entscheidung nur um einen Monat, warnen sich die Kontrahenten gegenseitig, lasse sich die Talfahrt der Sowjetökonomie nicht mehr aufhalten. Auch 1917, so munkeln schon einige Beteiligte, saß das Parlament beisammen und diskutierte, während das Volk auf der Straße nach Brot schrie.
Die Parallele zu ziehen ist nicht mehr abwegig. Die meisten Bürger verfolgen die Debatte im Parlament schon gar nicht mehr. Sie sind mit etwas anderem beschäftigt, nämlich mit dem Überleben. Der Durchschnittslohn, den viele unterschreiten, reicht nicht mehr aus. Doch auch wer Geld hat, kommt oft mit leeren Händen nach Hause. Wer einmal über sechs Stunden in der Schlange gestanden hat, ohne etwas kaufen zu können, weil gerade dann, wenn das ersehnte Ziel nahe ist, der Laden schließt, mag die Bedrückung erfassen, die um sich greift. Und die Information, 30 Millionen Menschen würden in naher Zukunft arbeitslos, macht Angst.
Nur wenige begreifen, um was es bei der Debatte der Wirtschaftsreform geht. Intuitiv neigen viele dem Regierungsprogramm Ryschkows zu, weil es mehr Sicherheit verspricht. Andererseits wird die Regierung für die Misere verantwortlich gemacht. Im Unterschied zu Ryschkow, der weiter an zentralen Lenkungsinstanzen festhalten will, versucht Schatalin, der die Rückendeckung Jelzins hat, mit seinem Plan zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Indem er den Republiken alle Vollmachten für eigenständiges Wirtschaften überträgt, will er die Sowjetunion in eine Föderation hinüberretten. Denn, so argumentiert er, die Verflechtung der Volkswirtschaften der einzelnen Republiken ließe sich nicht einfach durch voneinander völlig unabhängige nationale Volkswirtschaften — womöglich noch mit eigenen Währungen — ablösen. Aber selbst dieser vor Monaten noch als revolutionär empfundene Ansatz scheint heute schon veraltet, weil es fraglich bleibt, ob die Republiken den damit verknüpften neuen Unionsvertrag noch unterzeichnen werden. Schon jetzt gehen sie dazu über, bilaterale Abkommen zu schließen, um das Zentrum auszuschalten.
Das Schatalin-Programm gleicht im übrigen einem Schlachtplan auf dem Weg zur Marktwirtschaft. Bereits nach hundert Tagen sollen die Moskauer Bürokratien entschlackt und die meisten Ministerien aufgelöst werden. Staatseigentum wird zum Verkauf angeboten, die Bauern dürfen ihre Kolchosen verlassen, um das Land in Eigenregie zu bewirtschaften. Die Staatsausgaben werden stark gekürzt: Es entfallen u.a. 76 Prozent der „Entwicklungshilfe“ und 20 Prozent für den KGB. Der Entwurf sieht ein zweigliedriges Bankensystem aus einem Staats- und kommerziellen Sektor vor. Über den Verkauf des Staatseigentums hoffen die Autoren, den gewaltigen Geldüberhang abschöpfen zu können, bis dann in der zweiten Phase die Preise freigegeben werden. Zwischen dem 100. und 250. Tag sollen um die 1.500 Aktiengesellschaften aus den ehemaligen Großbetrieben geschaffen und die Hälfte aller kleineren Unternehmen privatisiert sein. Die dritte Phase geht schon von einer „Stabilisierung des Marktes“ aus, in der zwei Drittel aller Handelseinrichtungen zu Aktiengesellschaften umgewandelt sein werden. Dann soll auch der Rubel konvertierbar gemacht werden. Läuft alles wie vorgesehen, sind am Ende der 500 Tage 70 Prozent der Industrie und 90 Prozent des Großhandels privatisiert.
Das alles klingt ganz gut, doch zu viele unbekannte Größen tauchen auf. Wer soll vor dem Verkauf des Staatseigentums eigentlich die Inventarisierung vornehmen? Etwa die alte Administration, der ähnliches bisher nie gelungen ist? Und das innerhalb von drei Monaten? Fraglich ist auch, ob die Bevölkerung bereit ist, ihre Ersparnisse in Staatseigentum anzulegen. Und läßt sich durch die Entflechtung der Großindustrie eine Entspannung auf dem Verbrauchermarkt herbeiführen? Dazu müßten erst einmal neue Investitionen getätigt werden. Dafür fehlt aber wiederum die Infrastruktur und das Know-how. Und selbst wenn staatliche Geschäfte privatisiert würden, bedeutete das noch nicht zugleich mehr Wettbewerb. Nach wie vor verfügen diese Unternehmen über eine Monopolstellung. Die Reihe der Ungereimtheiten ließe sich fortsetzen. Aber selbst die scharfzüngigsten Kritiker sehen keinen anderen Ausweg und wollen den Bürgern die Roßkur verordnen. Und die müssen noch mehr von ihrer sprichwörtlichen Geduld aufbringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen