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Polymorph-perverse Excentriker

■ Der Moskauer Staatszirkus gastiert in der Deutschlandhalle

Der Moskauer Staatszirkus, eine siebzig Jahre alte Institution, der 17.000 Artisten angehören, stellt aus deren Highlights alljährlich ein neues Tournee-Programm zusammen. Jetzt zeigt er in der Deutschlandhalle seine neueste Show, die von dem »Clown ohne Maske«, Anatoli Martschewski, ausgewählt und begleitet wird. 68 Artisten sind beteiligt — und die Firma Chio Chips.

Der Zirkus begann allerdings schon vor der Premiere mit einer Pressekonferenz, an der neben Martschewski auch ein Vertreter des Sponsors der diesjährigen Tournee, der Knabberfirma Chio Chips teilnahm. Der Clown war der weisere Theoretiker und der Marketingmanager — »unser Herr Müller« — der bessere Clown: Die Zusammenarbeit habe sich, »wie in jeder Beziehung«, ganz langsam und natürlich entwickelt. Zirkuszuschauer von alt bis jung hätten schon immer gerne geknabbert, Kommunikation sei nicht nur, wenn zwei miteinander sprächen, sondern auch, wenn sie aus derselben Tüte knabberten. Und schließlich: »Kultur ist, wenn man trotzdem lacht«. Gegen das ungeduldige Gekicher der buffetverstopften Journaille kam letztere Kultursponsoring-Erkenntnis nicht mehr so recht an. Die abgelesenen peppigen Sprüche des jungen Herrn, der zudem auch noch vergaß, die tausend Chipstüten und -köfferchen zu verteilen, die ihm seine Firma mitgegeben hatte, gaben ein Vorgefühl auf die Sitzenbleiberklasse des Konsumismus. Aus Verlegenheit knabberten wir ein paar Chips...

Doch zum Zirkus selbst: Martschewski ist ein »Clown ohne Maske«, er will sein Gesicht offenbaren und sein Herz, Humanität, Wahrheit und Humor seien die Grundlagen seiner Arbeit; die gelbe Blume ist sein Symbol: kleine schutzlose Blume, große, liebevolle Gedanken. Doch muß er auch vom technischen Umbau ablenken; natürlich und leicht erscheinen lassen, was künstlich und schwierig ist: Auch die Güte kommt ohne kleine Tricks nicht aus.

Die Show beginnt langsam und gelassen. Sie wird trotz vieler überraschender Höhepunkte nie zu einer Reihe unübertroffener Spitzenleistungen verschweißt. Die einzelnen Auftritte haben auch mal etwas Befremdendes. Warum pflegt z.B. diese merkwürdig kurzbeinige Hochseilartisten-Familie ihr anstrengendes Hobby und freut sich so heftig, wenn alle drüben ankommen?

»Der Zirkus soll den Kindern Freude machen und den Erwachsenen ihre Kindheit wiederbringen«, sagt Martschewski. Wir dagegen müssen uns bemühen, das Dickicht serieller Zirkusvokabeln zu durchqueren. Martschewksy moderiert zurückhaltend, kümmert sich um seine eigenen Nummern und deswegen bleiben sie (wunderbar) unverbunden; neben dem Mirakel zeigen sie auch die Grenzen der Kunst.

Die Reise in die Kindheit ist ein Traum; der Traum ist unverbunden und von Alpträumen unterbrochen. Die zauberhafte Magierin Angelina Monastirskaja wechselt mit kindlich-bösartigem Eifer ihre schillernden Flitterkleider, läßt phosphoreszierende Blumen wachsen und kitzelt damit tausend unbestimmte Knabengelüste und ebensoviele narzißtische Gefühle kleiner Mädchen. Die Kinderträume träumen in einem ersten kulturellen Niemandsland, doch manchmal scheint in den bunten Scheinwerfern, den sowjetrussischen Kostümen und Kulissen ein whiskygekühlter Bond-Vorspann, ein Strahl Sputnik und ein wenig fellinischer Mamma-Mädchen-Kult durch, oder auch folkloristische Dorfbubenausgelassenheit der Majarowbrüderbande, die unaufhörlich dreifache Salti-Mortale schlägt.

Schreckliche Kosaken reiten auf mageren, kriegsgewandten Gäulen, schwingen ihre todbringenden Säbel und bringen enorme Feuerbüchsen zu schockierenden Explosionen. Ihr Auftritt wird durch eine schaurig- gnomenhafte Präfiguration angekündigt: kleine, streitbare Äffchen rasen auf apokalyptischen Ponys durchs Rund und schwenken fatal flatternde Banner.

Wie kleine Wollknäule tollen Prostezows Pudel umher. In Reihe: einer ist größer oder kleiner als der andere, wie die Daltons oder die Kinder einer großen Familie, die sich nebeneinander aufstellen. Auf Hinter- oder Vorderpfoten rennen sie durch den Raum, überspringen einander oder überspringen die Dresseure, die sich ihnen in den Weg stellen, bilden Alleen, durch die einer rennt oder springen aus dem Stand ein paar Rückwärtssaltos. Dann machen sie Anissimows Katzen Platz, die wohl Migräne hatten und wie schlanke Silberfische in den Kasten zurückhüpfen, aus dem sie gezogen wurden.

Im umherwirbelnden Sternenlicht jonglieren 4 Afanassjews mit 4*4 Keulen, jonglieren schließlich nur noch 2 Afanassjews mit 10 Keulen, jonglieren auf einem Karussel, während es sich immer schneller dreht. Es folgt die Familie Agajew: Seiltanz heißt hier, im Blick, der die Entfernung zum Boden mißt, in der Luft zu laufen. Der Blick faßt das Drahtseil nur als imaginäre Linie, auf der sich die Tänzer bewegen sicherer als im Traum, manchmal mit einem übergeworfenen Sack, mal zwei- dann dreistöckig, im Salto von der Schulter des einen auf die des anderen springen, sich von einer Wippe auf die Schultern einer Zwei-Mann-Pyramide schleudern lassen. Das klappt leider nicht. Sicherungsseile reißen den Zuschauer aus seiner Illusion und machen die fliegende Artistin zur tumben Biene Maja.

Clowns sind Clowns und sind Artisten. Als »Excentriker«, der russische Ausdruck für Artist, verbinden sie ihre Darbietungen mit kindlichen Phantasien. Die lustigsten Träume der Kinder bestehen in der Wiederholung und Verschiebung; wenn z.B. ein kleiner Junge sich in den Lehrer verwandelt, als Kind im Körper des allmächtigen Erwachsenen den anderen Kindern immer wieder befiehlt und immer schneller: »Aufstehen — Setzen!« ruft. Dies ist das Prinzip von Sebow und Subarews »atemberaubender Fesselballonfahrt in der Zirkuskuppel«, ist die exzentrische Wiederholung im Bereich zwischen Zentrum und Peripherie. Im Zentrum ist es ungefährlich; an der Peripherie, wenn die Bindung zum Zentrum zu reißen droht, wartet der Tod. Zwei Clowns kreisen in der Zirkuskuppel, im traumhaften Licht der Zirkusscheinwerfer, das an anderer Stelle einen wunderbaren Schatten wirft; in und an der Gondel machen sie ihre Kunststücke, doch sie fallen immer wieder hinaus, gehalten im letzten Moment nur von Gummibändern, die sie wieder emporschnellen lassen. Immer wieder. Das verzaubert ganz automatisch. Wieso die beiden ihre Namen, die in russischen Aufführungen am Ballon geschrieben standen, durch den französischen Autonamen (der als Sponsor nicht erwähnt wird) ausgetauscht haben, bleibt ihr Geheimnis.

Zwischen den Nummern kommt der Clown mit der Blume, Anatoli Martschewski und verbindet als Dilettant (Keulen, Rad usw.) die Kunststücke der verschiedenen Artisten professionell spezialisierter Kunstfertigkeit.

Er hat einen Gegner, den Zirkusdirektor, der ihn hindert, ihn zu kommandieren sucht, dessen Befehle er erfüllt, sie in jeder Erfüllung jedoch ironisiert; wenn der Direktor, ihm das Seilspringen verbieten will, ihm das Springseil nimmt, zieht er sich Stück für Stück aus und nimmt jedes weitere Kleidungsstück als Springseil, das er dem Direktor dann vor die Füße wirft.

So muß der Zirkus sein: polymorph-pervers, schaurig, befremdlich, grausam und gütig, dem Weltstadtpremierenpublikum war es nicht leistungsbezogen genug und es dankte nur mit mäßigem Applaus. Detlef Kuhlbrodt/Philipp Weiss

Moskauer Staatszirkus in der Deutschlandhalle, täglich außer montags, 19 Uhr. Karten zwischen 3,- und 45,- DM

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