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»Ärmel aufkrempeln« und feiern

■ Pressekonferenz Schwierzompers zum »Fest der Einheit«/ Kulturprogramm von Heiner Müller bis zur Volkstrachtengruppe/ Gegenprogramm des »Büros für ungewöhnliche Maßnahmen«

Berlin. Geschichte bricht sich derzeit vielhundertfach in Berlin. Im Reichstag, der einst unter anderem den ersten Raum bot für Hitlers legalen Machtantritt, warben Schwierzomper gestern mit Sprüchen, die bisweilen an Aufbauparolen der fünfziger Jahre erinnerten, für das kommende »Fest der Einheit«. Die ökonomischen Probleme und Sorgen der Menschen im Gefolge der Einheit, so Walter Momper, »können wir bewältigen, wenn wir solidarisch sind und die Ärmel aufkrempeln«.

Mit dem Reichstag, vor dem in der Nacht zum 3. Oktober der Höhepunkt des Einheitsfestes gefeiert werden soll, hatten beide Bürgermeister keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil: »Dieser Platz erinnert an die republikanischen und demokratischen Traditionen Deutschlands«, befand Momper und hatte dabei unter anderem die dortige Ausrufung der Weimarer Republik durch Scheidemann im Sinn. Die grüne Bundestagsabgeordnete Petra Kelly kritisierte derweil vom fernen Bonn aus das »kaum zu überbietende Maß von Instinktlosigkeit«, vor einer Kulisse zu feiern, die mit Hitlers Machtübernahme »eng verbunden« sei. Ist daraus vielleicht die Freudsche Fehlleistung im Pressetext zu erklären? Dort wurde der Reichstag in »Reichtsgebäude« umgetauft.

Das Zeremoniell vor dem Reichstag zur Geisterstunde ist aber auch eine Art Kompromiß zwischen Bonn und West-Berlin. Kohl und seine Mannen hätten es viel lieber gesehen, wenn die Bundesflagge auf dem Brandenburger Tor gehißt worden wäre; auch die DDR-Regierung hätte einen Flaggenwechsel dort wohl nicht ungern gesehen. Auf dem von Langhans gestalteten Tor sei ursprünglich aber gar kein Platz für Fahnen vorgesehen gewesen, die »Spalterflagge« dort habe erst Ulbricht hochziehen lassen, so Momper.

Das Rahmenprogramm wird im übrigen immer gigantischer und buntscheckiger, wobei die Veranstaltungen in Innenräumen kritische Akzente setzen dürfen. Ein Beispiel unter mehreren: Unter dem Titel Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold! werden am 2. Oktober um 20 Uhr im Maxim-Gorki-Theater literarische Texte geboten, außerdem streiten sich die DDR-Künstler Frank Castorf, Heiner Müller und Volker Braun um die Rolle der Intellektuellen. Draußen reicht das Angebot dagegen von der oberschlesischen Volkstrachtengruppe zu Berlin, die unter dem Fernsehturm tanzen will, über das Blasorchester Interflug bis zur Punkband »Herbst in Peking«. Das Programmheft ist ab 2. Oktober öffentlich erhältlich.

Aber auch für den nichtoffiziellen Teil laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Das Kreuzberger »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen« plant zusammen mit Gruppen aus Prenzlauer Berg einen phantasievollen Umzug. Er soll am 2. Oktober um 22 Uhr vom Brandenburger Tor losgehen und gegen Mitternacht am Kollwitz-Platz auf dem Prenzelberg enden. Dort wird dann »ab 0.33 Uhr zurückgefeiert«. Wer mitmachen will, möge das »Büro« unter Tel. 6919404 oder 6115000 kontaktieren oder zu den Koordinationssitzungen kommen: heute und am Donnerstag jeweils 20 Uhr 30 in der »Kantine« im Hinterhof der Cuvrystraße 20. usche

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