: Alte Kader, Nacht und Nebel
■ Theo Pirker fordert Enteignung des FDGB-Archivs DOKUMENTATION
Nachdem in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes über die Trägerschaft des SED-Archivs alle Fraktionen der Volkskammer mit Ausnahme der PDS sich dafür ausgesprochen haben, daß nicht nur das SED-Archiv, sondern auch die Archive der anderen ehemaligen Blockparteien und der Massenorganisationen der SED einer öffentlichen Trägerschaft zugeführt werden sollen und der Innenausschuß mit der Federführung beauftragt worden ist, wende ich mich in dieser Angelegenheit an Sie. (Ich) unterstütze das Vorhaben der Überleitung in eine öffentliche Trägerschaft. Dies um so mehr, als sich beim FDGB eine Tendenz verfestigt, die Materialien in den Händen derjenigen zu belassen, die die Archive schon vor dem 9.November 1989 geleitet und sie als Herrschaftslegitimation gegen kritische Stimmen innerhalb und außerhalb des FDGB mißbraucht haben. Am 14.September 1990 hat der Auflösungskongreß des FDGB beschlossen, für das Archiv und die Bibliothek eine Stiftung ins Leben zu rufen, die weiterhin von den seinerzeit von Harry Tisch dafür angestellten SED-Kadern geleitet werden soll. Die mögliche inhaltliche Ausrichtung einer dann einsetzenden Auswertung deutete sich auf dem Kongreß an: So legte z.B. das für Archiv und Bibliothek zuständige Vorstandsmitglied Martin Vogler in seiner Begründung des Antrages den Grundstein für eine zukünftige Legendenbildung, als er ausgerechnet die Verdienste des ersten FDGB- Vorsitzenden Hans Jendretzki um die Entstehung der Einheitsgewerkschaft in der DDR lobend hervorhob. (Jendretzki war zwischen 1946 und 1948 maßgeblich für die Umwandlung der Einheitsgewerkschaft in eine kommunistische Einheitsgewerkschaft verantwortlich: Christliche, sozialdemokratische und parteilose Funktionäre wurden unter seinem Vorsitz aus dem FDGB hinausgedrängt.
Bis zum März 1990 stand Jendretzki der Volkskammerfraktion des FDGB vor, einer Fraktion, die Gesetzesvorlagen abnickte, die sie nach eigenem Eingeständnis häufig gar nicht richtig kannte.) Sollte sich diese Tendenz fortsetzen, so läge die Aufarbeitung der Geschichte und die Aufdeckung von Fälschungen und Auslassungen in Händen derer, die gerade für die Geschichtsfälschungen in der Vergangenheit verantwortlich sind. Bestärkt werden unsere Befürchtungen dadurch, daß am 21.September 1990 in einer Nacht- und-Nebel-Aktion ein Kuratorium installiert werden soll, das von alten FDGB-Kadern von langer Hand vorbereitet wurde und die Absichtserklärung des Auflösungskongresses, die Geschichte des FDGB aufzuarbeiten, in ihr Gegenteil verkehrt. Im Interesse der Öffentlichkeit besteht u.E. hier ein dringender politischer Handlungsbedarf. Meine Mitarbeiter und ich (favorisieren) eine öffentliche Trägerschaft für dieses und für andere Archive mit Standort Berlin und freiem Zugang für die wissenschaftliche Forschung jenseits parteitaktischer Überlegungen. Prof.Dr.Theo Pirker
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen