»Wo wart ihr, als wir hungerten?«

■ Berliner Sozis sind stinksauer auf Bonner GenossInnen: Berlinzulage und Berlinförderung sind weiter bedroht/ Die taz befragte Delegierte auf dem SPD-Parteitag/ Lafontaine eiert/ Staffelt: Eine der größten Bedrohungenen seit dem Mauerbau

Berlin. Für erhebliche Aufregung in Berlin sorgten gestern wieder einmal Gerüchte aus Bonner Finanzkreisen, die finanziellen Unterstützungen für Berlin schon im nächsten Jahr zu kappen. In Interviews hatten sich in Bonn Finanzexperten von CDU CSU- und FDP-Fraktion im Bundestag dafür ausgesprochen, die sogenannte Berlinförderung bereits im nächsten Jahr radikal abzubauen oder ganz zu streichen. Unter die Berlinförderung, die in den fünfziger Jahren eingeführt wurde, um die Standortnachteile West-Berlins auszugleichen, fallen heute nicht nur erhebliche Steuererleichterungen für Unternehmen (in diesem Jahr rund neun Milliarden Mark).

Gekürzt werden soll auch die achtprozentige Arbeitnehmerzulage für Westberliner, die nach dem Mauerbau eingeführt wurde, um ein wirtschaftliches Ausbluten der Stadt zu verhindern und die niedrigeren Löhne in der Stadt an westdeutsches Niveau anzugleichen. Bereits mehrfach in diesem Jahr gab es solche Gerüchte aus Bonn, die den Berliner Senat jedesmal in helle Aufregung versetzten. Auch die Bundeshilfe zum Berliner Haushalt war schon mehrfach in Gefahr. Schon am vergangenen Wochenende hatte die Bonner SPD-Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier gefordert, die Berlinförderung 1991 zu streichen — sehr zum Ärger der Berliner SPD, die den Abbau nur in langsamen Schritten für möglich hält.

In seltener Einmütigkeit reagierten gestern die regierende SPD und die CDU-Opposition auf die Äußerungen aus Bonn: Der Regierende Momper warnte vor einer Verschlechterung des sozialen Klimas in der Stadt und vor einer »wirtschaftlichen Katastrophe«, SPD-Fraktionschef Staffelt sprach gar von »einer der größten Bedrohungen seit dem Mauerbau«. Empört reagierten CDU-Chef Diepgen, Wirtschaftssenator Mitzscherling und der geschäftsführende Landesvorsitzende der SPD, Lorenz. Er fragte die Bonner Politiker, wo sie gewesen seien, »als die Berlinerinnen und Berliner für die Demokratie hungerten«.

Auch auf dem SPD-Parteitag war gestern Kritik an den Äußerungen von Matthäus-Maier zu hören. Volker Hauff, Oberbürgermeister von Frankfurt, fand zwar den Lärm um Subventionsabbau ganz normal. Doch sei es »völlig unrealistisch, alle Vergünstigungen im Hauruckverfahren abzubauen«. Ein Delegierter aus Bochum meinte lakonisch: »Kurz vor der Wahl äußern sich viele zu sehr vielen Themen.« Auch wenn er selbst aus dem Ruhrgebiet komme, sei er dafür, »daß die Berlinförderung für eine bestimmte Zeit aufrechterhalten wird«.

Eine Delegierte aus Hessen-Nassau erklärte sich das Vorpreschen der Bonner Finanzexpertin mit dem Hauptstadtstreit. Peter Strieder, SPD-Kreisvorsitzender aus Kreuzberg, polterte: »Frau Matthäus-Maier will sich selbst profilieren. Subventionsstreichungen zu fordern ist eben populär.« Sicher müsse man darüber nachdenken, Subventionen abzubauen. Aber die Zahlungen Bonns in den Berliner Haushalt und die Berlinzulage für ArbeitnehmerInnen dürften »nicht zur Debatte stehen«.

Hans Koschnick, Ex-Bürgermeister Bremens, war sauer: »Ich weiß nicht, welche Idiotie die da in Bonn ausgeheckt haben. Mit den Arbeitnehmern würde ich mich jetzt gerade nicht anlegen.« Dagmar Roth-Behrendt, Berliner Europaabgeordnete, meinte: »Vielleicht denkt Matthäus- Maier, daß das viel Publicity bringt im Rest des Bundesgebietes. Ich halte das für dumm und kurzsichtig.«

So richtig in Schutz nahm die SPD-Finanzexpertin nur der Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine. Er kaprizierte sich lieber auf seine Hauptzielscheibe im Wahlkampf, CSU-Finanzminister Waigel. Vorgeprescht sei nicht Frau Matthäus- Maier, sondern der Finanzminister. Der fordere schon seit Monaten den Abbau der Berlin- und der Zonenrandförderung, um damit die Einheit zu finanzieren. Prinzipiell sei aber nichts gegen Subventionsabbau für Berlin zu sagen. Lafontaine wolkig: »Doch die Kürzungen müssen nach und nach geschehen und mit dem Berliner Senat abgesprochen werden.« kd/kotte

Siehe auch Seite 6