piwik no script img

Hilfswörterbuch der Vereinigung

■ Die Einheit wirft ihre Schatten voraus: Für den unübersichtlichen Berliner Gesetzes- und Paragraphendschungel versuchen wir, eine nicht repräsentative Orientierungshilfe zu geben. Texte von Kordula Doerfler, Hans-Hermann Kotte und Hans-Martin Tillack

Abschnittsbevollmächtigte: die berüchtigten, den Kontaktbereichsbeamten (KOBs) im Westteil der Stadt vergleichbar, werden mit der Übernahme der Polizeihoheit durch Innensenator Pätzold abgelöst: Sie sollen in Zukunft gemeinsam mit Westberliner Polizisten auf gemischten Funkstreifen fahren.

Alliierte Vorbehalte: Am 2. Oktober um 24 Uhr endet der Viermächtestatus von Berlin, die in vier Sektoren aufgeteilte Stadt wird gleichberechtigtes Bundesland des neuen deutschen föderalen Staatsgebildes. Die Alliierte Kommandantur wird morgen in Anwesenheit der beiden Bürgermeister Momper und Schwierzina offziell aufgelöst, die Stadtkommandanten von dieser Funktion abgelöst. Sie repräsentierten in Berlin die Außen- und Verteidigungsministerien ihrer Staaten und waren als Vertreter der Bonner Botschafter für alle Regierungsfunktionen in den Sektoren zuständig. Das Gebäude der alliierten Kommadantur in Dahlem geht nun an den ursprünglichen Besitzer, eine große Versicherungsgesellschaft, zurück. Erstmals dürfen Westberliner bei den nächsten Wahlen direkt ihre Vertreter für ein nationales Parlament wählen; in der Vergangenheit durften aufgrund des Besatzungsstatuts nur vom Westberliner Abgeordnetenhaus Bundestagsabgeordnete delegiert werden.

Diplomatisches Corps der Ex- Hauptstadt: Am 2.Oktober um 24 Uhr erlischt die Außenvertretung der Ex-DDR. Bereits Anfang September wurden alle Auslandsvertretungen der DDR auf der ganzen Welt darüber unterrichtet, daß die MitarbeiterInnen unverzüglich die Heimreise antreten müssen. Für die über 1.000 Diplomaten im ehemaligen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten beginnt eine große Zitterpartie: Nur die wenigsten werden in den diplomatischen Dienst des neuen gesamtdeutschen Staates übernommen werden.

Grüne Pfeile an den Ampeln in Ost-Berlin und der Ex-DDR werden abmontiert. Die bundesdeutsche Straßenverkehrsordnung, die mit den meisten ihrer Vorschriften jetzt auch in Ostdeutschland gilt, erlaubt das Rechtsabbiegen an roten Ampeln nicht — alle Ostler, die bisher in West-Berlin trotzdem bei Rot rechts rum fuhren, sollten es endlich mal kapieren. Nur die Promillegrenze verläuft nach wie vor quer durch Berlin. In Ost-Berlin und den fünf neuen Bundesländern gilt 0,0, in West-Berlin ist Restalkohol bis zur 0,8-Marke erlaubt. Deshalb spricht man auch von Rest-Berlin.

Hauptstadt der DDR: Sämtliche Hauptstadtfunktionen der ehemaligen Osthälfte erlöschen am 3. Oktober. Im Rechtsverständnis der drei West-Alliierten verstieß der ehemalige sowjetische Sektor grob gegen den Vier-Mächte- Status, indem Ost-Berlin zur Hauptstadt erhoben wurde und seine BewohnerInnen seit 1979 auch an den Wahlen zu einem nationalen Parlament teilnehmen durften.

Luftsicherheitszentrale: Die Alliierte Koordinierungsstelle für jeglichen Flugverkehr im Flughafen Tempelhof beendet ebenfalls am 2.Oktober ihre Tätigkeit.

Momper Walter, Regierender Bürgermeister: fliegt zum Staatsbesuch nach USA. Keine Angst, er kommt am 7.Oktober wieder.

Polizeipräsidium Ost: Bereits heute übernimmt Innensenator Pätzold die Polizeihoheit für die gesamte Stadt. Der Westberliner Polizeipräsident Georg Schertz wird Chef der Gesamtberliner Polizei, sein westliches Pendant Bachmann vermutlich in die Wüste geschickt. Während die niedrigeren Ränge fast alle übernommen werden sollen, droht dem Präsidium die Auflösung, seine 2.500 Mitarbeiter werden einer Überprüfung unterzogen.

Stadtgericht und Stadtbezirksgerichte: Sie werden alle zum 3. Oktober aufgelöst, die gesamte Rechtssprechung geht auf Westberliner Justizbehörden über. Die Westberliner Amtsgerichte werden entsprechende Dienststellen, größtenteils in den Gebäuden der ehemaligen Bezirksgerichte, einrichten. In den bisherigen Stadtbezirksgerichten Weißensee, Köpenick, Hohenschönhausen, Lichtenberg und Mitte wird es schon ab 4. Oktober Amstgerichtszweigstellen geben. Für die übrigen Bezirke sind Westberliner Dienststellen zuständig.

Wehrpflichtfreiheit im Westteil: Mit dem Wegfall des entmilitarisierten Status und der Übertragung des Bundesrechts kommt die Wehrpflicht nach West-Berlin. Im Ostteil müssen die jungen Männer schon seit Jahren ans Gewehr. Wegen geschrumpfter Truppenstärke hat sich die Hardthöhe zu einem Gnadenerlaß für über 25jährige durchgerungen, sie müssen nicht zum Bund, wenn sie drei Jahre nichts von ihren Wehrersatzämtern gehört haben. Dies gilt allerdings nicht für die rund 50.000 Wehrflüchtlinge aus West-Deutschland, die bereits erfaßt und gemustert sind und sich ohne Erlaubnis der Behörden nach West-Berlin abgesetzt haben. Sie können noch bis zum 32. Lebensjahr gezogen werden. Die ersten Berliner Einberufungen werden sich noch bis 1992 verzögern, erst dann sind die Wehrersatzämter einsatzbereit.

Abgeordnetenhaus, aber nur vorerst. Es tagt weiter getrennt von der Stadtverordnetenversammlung im Schöneberger Rathaus, muß aber wegen der voraussichtlichen Wahlen am 2. Dezember Ende Oktober seine Sitzungen einstellen. Am 11. Oktober soll der feierliche Beschluß über die Selbstauflösung gefaßt werden. Ob die Ostberliner Stadtverordneten an dieser »historischen« Sitzung teilnehmen und ebenfalls ihre Selbstauflösung beschließen, ist immer noch unklar. Möglicherweise hört die Stadtverordnetenversammlung auch einfach auf zu existieren — ohne dies formell beschlossen zu haben.

Alliierte Truppen kämpfen weiter für die Freiheit: Zwar endet am 3. Oktober der Viermächtestatus von Berlin, die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges werden aber noch über Jahre hinaus Truppen in Berlin und in der ehemaligen DDR stationiert haben. Immerhin müssen sich die Soldaten jetzt an die deutschen Gesetze halten und eine Genehmigung einholen, bevor sie mit ihren Panzern den Grunewald verwüsten. Im Vertrag, der nach den Zwei-plus-vier-Gesprächen ausgehandelt wurde, ist festgelegt, daß die Truppen einschließlich der sowjetischen Streitkräfte Ende 1994 vollständig abgezogen werden.

Bär, nur welcher? Der Bär wird das Berliner Wappentier bleiben und nicht durch das Sparschwein ersetzt, als das Bonner Steuerpolitiker die bis jetzt hochsubventionierte Stadt betrachten. Ungeklärt ist indessen, welcher der beiden Berliner Bären den Bürgern in Zukunft seine Zunge herausstrecken wird: Das Ostberliner Wappentier, passenderweise geschmückt mit einer Mauerkrone, oder der Westberliner Freiheitsbär, dessen Königskrone nach Ansicht von Heraldikern demokratisch ausgewählt wurde?

BVG und BVB sollen erst Ende 1991 zu einem Unternehmen fusionieren. Die Tarife bleiben zumindest bis Ende diesen Jahres gesplittet und unverändert hoch (im Westen) beziehungsweise niedrig (im Osten). Auch für die Löhne der Beschäftigten wird es vorerst beim West-Ost-Gefälle bleiben — zum Ärger der BVB-Bediensteten. Der Unmut dürfte schon am 4. Oktober Wellen schlagen. Da versammeln sich die Beschäftigten der beiden Verkehrsunternehmen zu ihrer ersten gemeinsamen Personal-Vollversammlung. Der Titel der Veranstaltung stimmt optimistisch: Führt die Vereinigung zu einer »Fahrt in eine unberechenbare Zukunft?« fragen sich die Beschäftigten.

Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus dröhnt weiter. Ob freilich der RIAS, der jeden Tag das Bimmeln der Glocke auch in der DDR erschallen ließ, seinen Kampf für freedom and democracy fortsetzen darf, ist, wie so vieles in diesen historischen Zeiten, noch offen.

Bundesadler: Die behelfsmäßigen Personalausweise bleiben erst einmal gültig (bis zum Jahr 2000). Wer jetzt einen neuen beantragt, bekommt ihn dafür mit dem Bundesadler, der bisher Berliner Ausweise nicht zieren durfte. DDR- Ausweise bleiben längstens bis zum 31. Dezember 1995 gültig, danach müssen neue Bundesausweise beantragt werden.

Bundesfahne: Unter den Klängen der Freiheitsglocke wird am 3. Oktober um 0 Uhr die Bundesfahne vor dem Reichstag aufgezogen; Bläsersolisten und ein Chor sorgen für die rechte feierliche Stimmung.

Einheitsbutton, zum Glück nur vorübergehend: Vom 2.Oktober 16 Uhr bis zum 3.Oktober 24 Uhr darf jeder glückliche Besitzer dieses intelligentesten Buttons aller Zeiten alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Der Button ist zwar bunt — kostet dafür auch drei Mark —, aber Schwarzfahren ist trotzdem billiger (dies ist keine Aufforderung zur Straftat, sondern eine empirisch belegte Feststellung!).

Dreiparteien-Koalition: Wer hätte gedacht, daß die unter Schmerzen geborene und am Leben erhaltene rot-grüne Koalition einmal als ganz, ganz große Koalition enden würde? Tatsache ist, daß Berlin ab dem 3. Oktober von einem Kollegialorgan namens Magi-Senat regiert wird. In der Regierung sitzen dann drei AL-Senatorinnen, zehn West- SPD-SenatorInnen, neun Ost-SPD- StadträtInnen und fünf CDU-StadträtInnnen, darunter der Westberliner CDU-Abgeordnte Elmar Pieroth.

Eisenbahnfahren auf den Strecken der Deutschen Reichsbahn wird für Westberliner und Bundesbürger billiger. Statt 21,5 Pfennig pro Kilometer müssen die Westler in der zweiten Klasse mit acht Pfennig nur noch den Tarif bezahlen, der seit jeher von ihren ostdeutschen Brüdern und Schwestern verlangt wird. Eine Fahrkarte von Berlin nach Hamburg kostet jetzt nicht mehr 64,80, sondern nur noch 33,80 Mark. Ansonsten fahren die Bahnen weiter auf eingefahrenen Gleisen.

Hauptstadt, aber nur im Wartestand: Ost-Berlin war es immer schon (siehe oben), jetzt ist es Gesamt-Berlin — aber nur nominell. Im Einigungsvertrag ist festgeschrieben, daß Berlin am 3. Oktober Hauptstadt wird. Über den Regierungssitz wird aber erst das neu gewählte gesamtdeutsche Parlament entscheiden.

Der Himmel über Berlin ist jetzt in deutscher Hand. Bisher hatten die Alliierten die Lufthoheit. Deutschen Maschinen war — zumindest in West- Berlin — nicht erlaubt, auf den Flughäfen zu landen. Höher als 80 Meter durften nicht einmal deutsche Drachen steigen. Nun, endlich, darf auch die Lufthansa am Lärmteppich über der Stadt mitweben, außerdem zahllose weitere Flugggesellschaften aus aller Welt.

Hundertfünfundsiebzig, Paragraph: Küssen im Westen, vögeln im Osten: Der bundesdeutsche Paragraph 175, der homosexuelle »Handlungen« zwischen Erwachsenen und Minderjährigen immer noch verbietet, wurde zwar nicht auf das Gebiet der DDR ausgedehnt. Aber Ost-Schwule müssen dennoch aufpassen: Schlafen sie mit ihrem jugendlichen Freund in einem West- Bett, dann drohen bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug oder Geldstrafe. Im Osten bleibt für die Ostler alles beim alten, und auch Westler dürfen dort unterhalb der Volljährigkeitsgrenze verkehren. In zwei Jahren soll dieses hanebüchene »Tatortprinzip« von einer endgültigen gesamtdeutschen Regelung abgelöst werden.

Mantelgesetz: Es regelt nicht die Festtagsbekleidung am Tag der deutschen Einheit, sondern die Rechtseinheit für das künftige Land Berlin. Im Eilverfahren wurde von den Parlamenten in beiden Teilen der Stadt das sogenannte Mantelgesetz verabschiedet, das mehrere Leitzordner füllt. Danach werden alle Gesetze, die bis zum 25. September vom Abgeordnetenhaus verabschiedet wurden, auf Ost-Berlin übertragen. Ausnahmen sind der öffentliche Dienst und der Bereich Schulwesen, für die es Übergangsregelungen geben wird. DDR-Recht, das als Landesrecht zu betrachten ist, tritt mit wenigen Ausnahmen am 3. Oktober außer Kraft.

Standortkommandant: Am 3. Oktober wird der Flottenadmiral Klaus-Dieter Sievert von Bundesverteidigungsminister als Berliner Standortkommandant inthronisiert. Seine Aufgabe soll nicht sein, die Weiße Flotte für den militärischen Gebrauch umzurüsten, vielmehr wird er als Verbindungsmann zwischen Senat und Bundeswehr nach eigenem Bekunden dafür sorgen, daß sich Berlin an die Bundeswehr gewöhnt. Ein Fulltime-Job also...

Waffenfreiheit: Mit der Vereinigung wird das alliierte Waffenrecht durch Bundeswaffenrecht abgelöst. Wer unbedingt auf wehrlose Tiere Jagd machen will, kann Jagdscheine jetzt direkt beim Polizeipräsidenten beantragen, und die Karnickel im Tiergarten müssen nicht mehr wie bisher mit Frettchen bekämpft werden. Für alle anderen Jagdangelegenheiten ist in Zukunft aparterweise die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz zuständig.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen