KOMMENTAR: Berlin - eine Hauptstadt im Wartestand
■ Berlin ohne Regierung und Parlament - nein danke!/ Der Abschied vom gallischen Dorf ist notwendig Kommentar
Wenn am morgigen Vereinigungstag mit Feierlichkeit kosmetisch geschönt wird, was in den vergangenen Monaten so unschön zusammengewuchert ist, wird sich der Status dieser Stadt ändern. Berlin, und zwar das ganze, wird die Hauptstadt der neuen Bundesrepublik Deutschland sein. Doch die Entscheidung, ob Berlin auch Sitz des gesamtdeutschen Parlaments und der gesamtdeutschen Regierung wird, ist bisher zwischen parteipolitischen und länderspezifischen Egoismen zerrieben worden, sodaß zum jetzigen Zeitpunkt für die Stadt nur die Ehre eines Titels bleibt. Dieser Titel löst jedoch keines der Zukunftsprobleme unserer Stadt. Die nach der Gesamtberliner Wahl am 2. Dezember amtierende gemeinsame Stadtregierung und das Stadtparlament werden die riesige Aufgabe des Zusammenführens zweier Halbstädte zu bewältigen haben.
Ost-Berlin muß, sozial, ökonomisch und äußerlich, vollständig renoviert werden. Und auch die Auflösung des Soziobiotop West-Berlin, das über vierzig Jahre lang tapfer in Feindesland ausharrende gallische Dorf, ausgehalten von milliardenschweren Bundeszuweisungen, stellt hohe Anforderungen an die zukünftige Stadtpolitik. Allein mit dem Ausbau der Verkehrswege ins nähere Umland, der Anbindung Berlins an den Schienenverkehr, dem Ausbau des innerstädtischen Verkehrsmittels S- und U-Bahn in West- und Ost-Berlin kommt eine Kostenlawine auf die Stadt zu, die aus selbst erwirtschafteten Haushaltsmitteln nicht zu bewältigen sein wird. Diese Infrastruktur aber ist die Voraussetzung, um die neuen ökonomischen Chancen — aber vor allem die Zwänge — die der Wegfall der Grenzen setzt, überhaupt wahrnehmen zu können.
Ebensowenig kann Berlin bei dem beabsichtigten Wegfall der diversen Finanzspritzen vom Bund die auf die Stadt zukommenden Kosten im sozialpolitischen Bereich — Krankenhäuser, Schulen, Sozialhilfe, berufliche Ausbildung, Arbeitslosigkeit — aufbringen. Wenn Berlin nicht auf Dauer also zu einem milliardenschweren Subventionsloch der neuen gesamtdeutschen Bundesregierung werden soll, muß diese Stadt eine gesamtstaatliche Aufgabe erhalten, die als Gemeinschaftsaufgabe bewältigt wird — die Aufgabe, Hauptstadt, Parlaments- und Regierungssitz für die vereinte neue Bunderepublik Deutschland zu sein. Daß es schwer sein wird, mit dieser neuen Aufgabe, die in den Jahren der rot-grünen Koalition — wenn auch unzulänglich — umgesetzte Perspektive einer sanften Metropole mit einer ökologisch orientierten Stadtentwicklungspolitik, einem multikulturell geprägten sozialen Klima zu erhalten, steht außer Frage. Doch dieses Problem wird nicht durch das Ausweichen vor der Hauptstadtfunktion gelöst, sondern nur durch die in dieser Stadt geführten politischen Auseinandersetzungen.
Vor ihnen weichen insbesondere jene aus dem Kreuzberger Westen wie dem Prenzlauer Berg im Osten aus, bei denen die Nennung des Begriffs »Hauptstadt« reflexhaft Visionen des Grauens auslöst: Die Flut von Regierungsbeamten, Krawattenträgern, subalternen Biedermännern und -frauen wird wie ein Menetekel an die im Kopf verbliebene Mauer geschrieben. Genauso gemenetekelt wird die durch Bautätigkeit für Regierungs- und Beamtenunterkünfte, durch den Zustrom des big business und der Lobbyisten aus »Großdeutschland« und der übrigen Welt, durch steigende Mieten bewirkte Zerstörung der urbanen und sozialen Struktur West-Berlins. Und insbesondere die linke und linksliberale Metaphernwelt kommt nicht ohne den selektiven Blick in die Vergangenheit aus, nicht ohne die Reduzierung Berlins auf seine Geschichte als ehemalige nationalsozialistische Machtzentrale. Beschworen wird die Vision einer zentralistischen Krake, die wieder alle Macht an sich reißt.
So wenig heute eine solche negative Entwicklung ausgeschlossen werden kann, so wenig darf Berlin mit seinen nachkriegsgeschichtlichen Altlasten sich selbst überlassen werden. Die neue Rolle Berlins als Hauptstadt des neuen Deutschlands zu bejahen heißt, offensiv die politische Auseinandersetzung darüber zu führen, wie diese Stadt diese Aufgabe bewältigt: nationalstaatlich oder europäisch, deutschtümelnd oder kulturell offen, zentralistisch oder föderalistisch. Die Noch-Bürger der DDR jedenfalls, das zeigen alle zugänglichen Meinungsumfragen, sind mit überwältigender Mehrheit dafür, »ihre« Stadt zur kompetenten Hauptstadt zu machen. Und das trotz jahrzehntelang gewachsenem Mißtrauen gegen die sozialistische Hauptstadt Berlin-Ost, die gehätschelt und gepflegt wurde, während die DDR-Provinzen darbten. Was sonst würde ihnen als Symbol ihrer Identität und staatlichen Unabhängigkeit nach dem Anschluß an die BRD denn noch bleiben?
Auch für die künftigen Parlamentarier und Regierenden ist Berlin der angemessene Ort. Denn vom fernen Bonn aus gesehen sind die Probleme des östlichen Teils Deutschlands sicher kleiner dimensioniert als wenn die Wahrnehmung direkt aus der Mitte heraus erfolgen müßte. Und wenn, was nicht ausgeschlossen ist, das große Vereinigungsexperiment doch noch scheitert, wäre es eine reine Freude, Parlament und Regierung direkt mit dem Zorn und dem Protest der Betrogenen und Enttäuschten konfrontiert zu sehen. Die von vielen favorisierte Halbherzigkeit, Berlin zur nur repräsentativen Hauptstadt zu machen und die politisch-administrative Macht in Bonn zu belassen, ist der falsche Weg. Eine Hauptstadt, in der das Volk zu repräsentativen Anlässen jubelt und aus der der politische Streit ausgegrenzt ist, kann ernsthaft niemand wünschen. Raul Gersson
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