: Vom demokratischen Aufbruch zur deutschen Einheit
Wie zwangsläufig war die Entwicklung des letzten Jahres zum schnellen Anschluß der DDR?/ Nachfragen zur Wende der Wende ■ Von Matthias Geis
„Die Macht geht vom Volke aus — aber wo geht sie hin?“ (Transparent auf der Demonstration am 4. November '89 in Berlin)
Bei den Einheitsfeiern wird es sie noch einmal hart treffen. Die Herbstrevolutionäre — falls geladen — werden die Rituale eines Festes über sich ergehen lassen, das sie so nie gewollt, zu dessen Realisierung sie jedoch einen entscheidenden Beitrag geleistet haben. Jens Reich wird ironisch die Larmoyanz kommentieren, die sich unter den Umstürzlern breitmacht, seitdem allen klar ist, daß sie auf Opposition abonniert bleiben und es schwer wird, vom bürgerlich-demokratischen Selbstbewußtsein des Aufbruchs etwas hinüberzuretten ins einig Vaterland.
Diejenigen, die unverhofft als Macht-Haber zu ihrem zweifellos historischen Erfolg gekommen sind, werden die Festreden halten. Keiner wird auf die kleine Hommage an die friedlich-mutigen Revolutionäre verzichten. Die Frage jedoch, ob es so und nur so kommen mußte, haben die Gewinner für sich schon beantwortet. Die demokratischen Implikationen des Herbstes sind längst redigiert, die nationalen als eigentlicher Motor erkannt. Sonst jeder Geschichtsgesetzlichkeit abhold, gilt ihnen in dieser deutschen Sache die Zielhaftigkeit auf den Einheitsstaat. Doch daß die jetzt dem Osten übergestülpte Bundesrepublik ein unvergleichliches Mehr an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und gesellschaftlicher Offenheit ermöglichen wird, als unter dem alten Regime je realisierbar gewesen wäre, das gibt selbst den Festrednern ihr verqueres Recht, das nationale Projekt in die demokratische Tradition des Herbstes zu stellen.
Die Machtfrage bleibt aus
Vielleicht haben die Festredner recht: War einfach nicht weniger möglich als das ganze Deutschland? Nicht mehr als ein größeres Einzugsgebiet für die bundesdeutsche Demokratie? Die Nachfrage lohnt. Nicht unbedingt, um die grassierende Wehmut zu kultivieren. Eher vielleicht, um dem Prozeß etwas von der brutalen Zwangsläufigkeit zu nehmen, die ihm auch in Kreisen der Opposition bescheinigt wird.
Heute läßt es sich behaupten: Das Ende des SED-Regimes war schneller besiegelt, die Wende in der DDR früher unumkehrbar, als es damals, im Herbst 89 den Anschein hatte. Im Rückblick wird der Widerspruch deutlich: Obwohl Akteure wie Beobachter angesichts der Hilflosigkeit des Regimes und des rasanten Erfolgs der Bürgerbewegung aus dem Staunen nicht heraus kamen, hielt sich doch über Monate das Gefühl, noch immer stünde alles auf Messers Schneide. Der Stasi-Putsch, die neuerliche Stabilisierung der Parteiherrschaft, die Überlebensfähigkeit der Apparate — all das schien als dumpfe Drohung bis in den Januar hinein fortzubestehen. Dabei lagen die entscheidenden Stufen zur Kapitulation des Regimes früher und sehr viel dichter beieinander. Zwischen den brutalen Polizeiaktionen rund um den 40. Republikgeburtstag und der Resignation der bewaffneten Organe am 9. 0ktober in Leipzig liegen 48 Stunden. Eine paar Tage noch hält sich Honecker in seinen Ämtern. Keine drei Wochen nach der Inthronisierung von Egon Krenz verkündet Schabowski den Fall der Mauer und vollzieht damit den eigentlichen Kapitulationsakt des Regimes.
Doch der Schrecken wirkt nach. Weiter zehrt das paralysierte Regime von seinem monströsen Nimbus, der selbst die erfolgreichen Revolutionäre in seinem Bann hält. Noch als die protestierende Gesellschaft längst aus der Oppositionsrolle herausgewachsen war, weil es kein staatliches Gegenüber mehr gab, das sich ernstlich gegen ihre Forderungen hätte stellen können, blieb die Gesellschaft in der Rolle des machtvollen Bittstellers. Alle Forderungen — die Legalisierung der Gruppen, die Abschaffung des Führungsmonopols der Partei, freie Wahlen — wurden erfüllt, die kompromittierten Führungsfiguren der Reihe nach gestürzt. Kein ernsthaftes Argument spricht im nachhinein dafür, daß sich die SED der Machtfrage hätte entziehen können.
Mit der Entwicklung in der CSSR hat der osteuropäische Umbruch den erfolgreichen Wechsel der Opposition in staatliche Machtpositionen demonstriert. Keinen Monat nach dem Prager Knüppeleinsatz, der die Revolution einläutete, setzt das oppositionelle Bürgerforum seine Minister durch. Präsident Gustav Husak räumt die Prager Burg für seinen Nachfolger Vaclav Havel. Die tschechische Situation ist unvergleichlich, die Bilderbuchrevolution kein Maßstab. Weder konnte sich die DDR- Opposition auf 20-jährige Tradition noch auf ähnlich anerkannte Führungsfiguren stützen. Die Revolution in der DDR hatte verschiedene Zentren und strikt basisdemokratische Organisationen. Eine Revolutionszentrale wie in Prag, wo im Hinterzimmer der laterna magica auf die letzten Volten des Regimes reagiert und die Weichen der Bewegung gestellt wurden, war in der DDR undenkbar.
Was hätte sie bedeutet, die Übergangsregierung Henrich oder Ullmann im November 89? Nicht mehr und nicht weniger als das unübersehbare Signal für das definitive Ende der SED-dominierten DDR — zu einer Zeit, als über die Perspektiven der zweiten deutschen Republik noch nicht entschieden war. Wohlgemerkt, die Zerstörung der alten Herrschaft war faktisch vollzogen. Daß jedoch die Revolution ihren Erfolg von Modrows Übergangstruppe verwalten und in den zähen Hinhaltepartien um Stasi-Auflösung und Korruption immer mehr zerreiben ließ, das erst schuf die deprimierende Endzeitstimmung, in der sich die Gesellschaft nach überzeugenderen Alternativen umzusehen begann.
Unwahrscheinlich, daß eine Übergangsregierung der Bürgerbewegungen die nationale Wende hätte verhindern können — oder wollen. Aber sie hätte den rapiden Verfall des neugewonnenen Selbstbewußtseins abbremsen und damit die Startbedingungen für eine demokratische (Übergangs-)DDR verbessern können. Selbst neue Impulse für die saturierte BRD schienen denkbar. Erinnert sei nur daran, daß auch die Bundesregierung nicht aprupt auf Einheitskurs schwenkte. Noch Ende November propagierte Kohl die Konföderation. Erst die ausbleibenden Bonner Hilfen, Modrows undurchsichtiges Lavieren und die wieder in die Höhe schnellenden Übersiedlerzahlen produzierten die kollektive Einsicht ins DDR-Elend. Als Ende Januar die Trendwende offensichtlich war, entschloß sich die Opposition zur Regierungsbeteiligung — mit dem erklärten Ziel, Modrow und damit ein Stück alte DDR bis zu den Wahlen über die Runden zu retten. Zuerst war es die Drohung der Überlebensfähigkeit des alten Systems, das die Opposition lähmte; dann das immer drastischer prognostizierte Chaos, das die potenten Bonner Propheten jedweder Couleur in die Offensive brachte.
Das Herbstbündnis zerbricht
Zwangsläufig war das nicht, ebensowenig wie der vorauseilende Gehorsam der Sozialdemokraten gegenüber dem noch gar nicht recht in Stellung gebrachten nationalen Imperativ. Die zweite, schon schmälere Chance für den Neubeginn hat die SPD vertan. Ihre Angst vor der patriotischen Kampagne der Konservativen, ihr kurzer Januar-Traum von der strukturellen gesamtdeutschen Mehrheit zwangen sie zum Einheitsbekenntnis wie zur siegesgewissen Aufkündigung des Bündnisses mit den Bürgerbewegungen. Damit gab die SPD das Signal für das Ende einer kaum in Angriff genommenen nachrevolutionären DDR-Politik. Die neue Harmonie zwischen Ost- und West-SPD eröffnete den unverschämten Reigen der Bonner Partnersuche, die Kolonisierung der neuen politischen Landschaft durch die Westparteien. Sie verwischte den bestimmenden Gegensatz zwischen den Blockparteien der Nationalen Front und der Demokratiebewegung, zwischen vierzig Jahren realsozialistischer Verantwortung und ihrem fulminanten Ende.
Die Alternative, die sich in der plakativen Formel „alt gegen neu“ verbarg, war vertan. Sie hätte nicht den Wahlsieg garantiert, zumindest aber den rapiden Einflußverlust der Demokratiebewegung abgebremst. Der DDR-SPD wäre es schwerer geworden, aus einem gemeinsamen Wahlkampf für den Neubeginn in die Große Koalition zu stolpern. Die Bonner wiederum hätten gegen eine Volkskammerfraktion der Herbstakteure ihren Kurs kaum derart widerstandslos durchgesetz, wie es ihnen dann mit der Großen Koalition der Liquidatoren gelang.
Noch mehr verpaßte Chancen? Die Rekonstrukion der Möglichkeiten gegen den tatsächlichen Verlauf wird prekärer. Aber nimmt man die Argumentation des designierten Regierungschefs de Maizière, mit der er die wahl-konsternierten Sozialdemokraten in die Koalition führte, dann schien auch nach dem 18. März noch nicht alles vertan. Nur das große Regierungsbündnis, so de Maizière intern, eröffne die Chance gegen Bonn Würde und Interessen der DDR-Bevölkerung zu wahren. De Maizière zeigte in der Anfangsphase seiner Amtszeit viel Fingerspitzengefühl, um Intentionen des Aufbruchs, den er selbst als Führungsfigur einer orientierungslosen Blockpartei erlebte, in sein Programm einfließen zu lassen. Ob er dies schon als kaltschnäuziger Taktiker tat, als der er sich nach der Währungsunion entpuppte, oder ob er erst in den Bonner Verhandlungsmühlen lernte, den Anschluß als „Einheit in Würde“ zu verkaufen, bleibt eine der spannendsten Fragen am Rande der Einheitsfeiern.
Daß nicht nur der demokratische Impuls des Herbstes, sondern auch die erhabene Form, in die der Anschluß gekleidet werden sollte, auf der Strecke blieben, muß nicht mehr nacherzählt werden. Sinnfällig Argumente finden sich in großer Zahl. Ein schwer zu überbietender Höhepunkt bleibt die von Versprechern durchhaspelte Verkündung der Volkskammerpräsidentin, das Parlament habe soeben den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3.0ktober 1990 beschlossen. Daß Frau Bergmann-Pohl, in der Aufregung des historischen Augenblicks, nur zu holpriger Rede fähig war, ist kein Anlaß zur Häme. Daß jedoch den BürgerInnen am nächsten Tag die authentische Szene zugunsten einer flüssigen, studiokorregierten TV-Fassung vorenthalten wurde, gibt zu denken. Das erinnert an den Anfang vom Ende des Aufbruchs: Berlin, am Tag nach dem Fall der Mauer. Die große Koalition hymnenschmetternder Bundespolitiker vor dem Rathaus Schöneberg ertrinkt im gellenden Pfeifkonzert. Auch hier wissen die Studiotechniker ob ihrer patriotischen Pflicht. Sie blendeten die störenden Nebengeräuche aus. — Es wird schwer werden, von der Zivilcourage des Herbstes etwas hinüberzuretten.
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