: „Jeden Tag toller Zoff“
Schalke 04: Ein Mythos schlägt auf dem Weg in die erste Bundesliga Hannover 96 mal eben mit 2:0 ■ Aus Gelsenkirchen Ernst Thoman
Die Stadionzeitung nahm den Wahlsonntag schwarz-rot-gülden auf den Titel. „Leipzig grüßt Schalke“, ein Bild strahlender Sachsen in königsblauer Kluft. Nicht mehr als eine randständige Reminiszenz an die Landtagsurnen in den Spielbezirken der einstigen DDR-Oberliga. „Auf“ Schalke gaben am Sonntag abend, pünktlich zum Anpfiff um 18 Uhr, bemerkenswerte 35.000 Besucher geschlossen ihre Stimme ab: „Bundesliga, wir kommen.“
Keine zwei Stunden später, die Hochrechnungen paddelten auch in der Bayernliga noch um ungewisse zehntel Prozentpunkte, dröhnte durch die Betonschüssel des Parkstadions bereits lautstarke Gewißheit. Schalke hatte soeben durch zwei Tore der Sowjets Sascha Borodjuk und Wladimir Ljuty Hannover 96 an die Leine genommen: „Nie wieder zweite Liga.“ Schalker Fans brauchen keine Hochrechnung.
Es hätte nicht einmal der beiden Treffer bedurft. Beide fielen in späten Spielminuten, der erste aus weitem Abseits. Auch zwei vergebliche Foulelfmeter, die Hannovers kanariengelber Torhüter Jörg Siewers parierte, konnten die Ausgelassenheit der Fans nicht abkochen. Ränge und Rasen präsentieren sich in Schalke derzeit in seltenen Dialektik.
Da mag sich das Spiel unaufregend im Mittelfeld verhaken, Torszenen oder gar Strafraumnähe nur entfernt an den Sinn der Ballschieberei erinnern, da kann Beton (Hannover) gegen den zumeist stumpfen Hilti-Bohrer (Schalke) mauern, das ist den 35.000 schnurz. Schalker Fans feiern zunächst sich selbst. Da spülen sie die unsägliche La-Ola- Welle durch die Kurven und bejubeln versagende Elfmeterschützen. Egal, was auf dem Grün zusammengekickt wird, „auf Schalke ist immer was los.“
Das sagen selbst die Alten von damals noch heute. „Du kommst morgens zum Training, und schon ist Theater“, erinnert sich Gladbachs Manager Rolf Rüssmann. Auch die Kremers-Zwillinge markierten hier wie zahlreiche Spielkameraden aus vergangenen Dekaden den Mythos und die magnetische Kraft des blau- weißen Faszinosums: „Jeden Tag neuer Zoff, einfach toll.“
Das vorläufig letzte Kapitel der Vereinsgeschichte: Präsident Günter Eichberg soll unter der Hand mit Düsseldorfs Trainer Aleksandar Ristic einen Deal für die neue Saison gemacht haben! Sofort geht der Mannschaftskapitän an die Decke: „Wenn unser Trainer Peter Neuhurer nicht bleibt, gehe ich auch“, sagt Andreas Müller, und der ist ein standfester Mormone. Der Präsident, Opfer einer Zeitungsente, dementiert verzweifelt und beteuert, er sei doch kein Chaot, mitten in der Aufstiegslust die Pferde zu wechseln. Und die Fans sangen am Sonntag: „Ristic, Ristic, ha-ha-ha.“
Die Trainerfrage indes steht wie eine Metapher für die veränderten Zeitläufe rund um den Schalker Kreisel. Auf Schalke, wo doch immer so viel los war, gehen langsam die Themen aus. Weil der Präsident in einer nicht für möglich gehaltenen Radikalkur dem Klub High-Tech statt Vereinsmeierei bescherte. Durch cooles, profihaftes Management wurden binnen 18 Monaten die Schulden von 6 Millionen D-Mark fast auf Null gedreht.
Spieler wie der Ex-Waldhofer Günter Güttler, der wenige Wochen vor der Italien-WM noch von Lothar Matthäus öffentlich in den Teamchefkader gehievt werden sollte, werden von Sponsoren finanziert. Die Mannschaft um diesen Libero, mit den beiden Sowjetsternen und dem beinharten Egon Flad von St. Pauli, ist für die Zweitklassigkeit viel zu stark. Das wissen auch die Fans. Deshalb ist es ihnen egal, wohin der Ball rollt. Weil Schalke aufsteigt, sowieso, das ist zu feiern. Die Kulisse im Parkstadion nämlich ist längst Tabellenführer — mit beiden Beinen in der ersten Liga. Nicht einmal der große FC Bayern lockt mehr Besucher unter sein Zeltdach. Verständlich, wenn dessen Manager Uli Hoeneß meint, die Bundesliga braucht Schalke.
Schalke: Lehmann — Prus — Schacht — Zechel (63. Kroninger), Luginger, Müller, Schlipper (46. Borodjuk), Flad, Anderbrügge — Sendscheid, Ljuty.
Hannover: Sievers — Wojcicki — Sundermann (78. Laumann), Klütz - Heemsoth, Karl, Surmann, Groth, Bicici (76. Heisig), Schönberg — Grün.
Zuschauer: 34.700.
Tore: 1:0 Borodjuk (74.), 2:0 Ljuty (81.).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen