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Die großen Parteikrisen kamen aus Osteuropa

Englands Kommunismus-Theoretiker auf „analytischen Wegen“/ Reinigung Marxens von Hegel/ „Zeitnahe Geschichtstheorie“  ■ Von Ralf Sotscheck

'Marxism Today‘ heißt die monatliche Glanz-Zeitschrift, die in fast jedem Londoner Zeitungsladen für 1,65 Pfund (ca. 5 Mark) zu haben ist. Prince Charles, der britische Thronfolger, zierte die Titelseite der September-Ausgabe, weil er der Zeitschrift ein Interview gewährt hatte. 'Marxism Today‘ ist das „theoretische und Diskussionsjournal der Kommunistischen Partei Großbritanniens“. Das Journal hat dank der GastautorInnen einen besseren Ruf als die Partei.

Durch deren Geschichte nämlich ziehen sich Spaltungen wie ein roter Faden. Die 33jährige Parteivorsitzende Nina Temple: „Wir hatten in der Vergangenheit vor allem Auseinandersetzungen wegen Osteuropa. 1956 haben wir die Invasion Ungarns unterstützt. Ein Drittel der Mitglieder ist deshalb ausgetreten.“ 1968 verurteilte die KP die Invasion der CSSR — wieder traten zahlreiche Mitglieder aus. 1977 wurde das Partei-Programm überarbeitet. „Danach haben uns sehr viele Mitglieder verlassen, weil wir angeblich eine anti-sowjetische Haltung angenommen hätten.“ Mitte der 80er Jahre gab es eine erneute Spaltung. Die KP ist heute einflußlos und steht politisch eher dem rechten Flügel der Labour Party nahe. Temple tritt auch für ein Bündnis mit „unzufriedenen Tories“ ein. Die Ereignisse in Osteuropa haben die Rechtsentwicklung beschleunigt. Die KP denkt darüber nach, ihr Journal umzubenennen.

Umso emsiger suchen parteiungebundene Marx-Exegeten gegenzusteuern. Am bedeutendsten ist dabei eine Strömung, die sich „Analytical Marxism“ nennt. Sie versteht gibt ihren Denkmodellen Namen wie „Marxismus der Spieltheorie“, „Marxismus der rationalen Entscheidung“ oder „Neoklassischer Marxismus“. Autoren wie G. A. Cohen und J. Elster, zwei der Hauptdenker des renovierten Marxismus, definieren im Sammelband „Analyzing Marxism“, ihre Arbeit „als ,analytisch‘ vor allem hinsichtlich der Klarheit und Rigorosität, die die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts auszeichnet“. Richard Miller, ein weiterer Vorsprecher der neuen Linie, erklärt, daß „Marx ein Klassiker für die moderne Philosophie sein sollte, denn die in der englischen Philosophie starke Tradition der detaillierten, abstrakten, phantasievollen Analyse hat ja die Sozialtheorie Marxens in enormem Maß beeinflußt“. Marx ein Kind des englischen Weltverständnisses, das es zu retten gilt?

Wesentlich aussichtsreicher als solche eher nostalgischen oder allzu abstrakten Erwägungen ist wohl ein anderer Ansatz, der den Engländern mittlerweile als eine Art „Reinigung Marxens von Hegel“ gilt: „Der herkömmliche Marxismus“, schreibt John Roemer in „Analytical Marxism“, „distanziert sich allzustark von der konkreten, aktuellen, vor den Augen der Menschen ablaufenden Geschichte.“ Darum müsse man „den Mut haben, sich von dieser Art der Geschichtsbetrachtung abzusetzen und stattdessen analysieren, welches die lebendigen und bewegenden Momente einer wirklich zeitnahen Geschichtstheorie sind“.

Auch eine Art, Marx zu begraben.

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