■ NOCH 3357 TAGE BIS ZUM JAHR 2000: Der Tod in Italien
Wenn die Polizei, die Behörden, Richter und die Presse sich verschworen hätten, einen schlagzeilenträchtigen Fall auszuknobeln, hätten sie nichts anderes als diesen Fall erfinden können. „Das ist eine phantastische Geschichte“, tönt der römische Soziologieprofessor Franco Ferrarotti und meint damit den Fall Simonetta Cesaroni, der seit zweieinhalb Monaten für blankes Entsetzen in der italienischen Öffentlichkeit sorgt. Simonetta, eine 21jährige Sekretärin, hatte Anfang August vor, in die Ferien zu fahren. Doch am Abend vor ihrer Abreise kam sie nicht, wie gewöhnlich, nach Hause. Die Familie schlug Alarm. Man fand Simonetta Cesaroni an ihrem Arbeitsplatz, einer Jugendherbergsorganisation. Sie war auf derart brutale Weise umgebracht worden, daß selbst hartgesottenen Kriminalisten der Atem stockte. Die junge Frau lag nackt in einer Blutlache, von 29 Stichen mit einem Brieföffner getötet. Was für ein Fressen für die Medien.
Daß der Fall Cesaroni für die Italiener keines jener Verbrechen wurde, die in großer Aufmachung Aufsehen erregen und dann vergessen werden, dafür wurde gesorgt. Seit nunmehr zehn Wochen werden die grauenhaften Umstände der Tat in den Medien wiedergekäut. Simonetta wurde nicht vergewaltigt, trotzdem wird in den Zeitungen von perversem Sex gemunkelt, mysteriöse Blutspuren werden breitgetreten und die Angst in der Bevölkerung geschürt. 'L'Espresso‘ schrieb von einer „neuen, schrecklichen Krankheit“ der Gesellschaft: „War es der Nachbar, der Freund, ein Kollege oder einfach einer im Aufzug?“
„Da hast du ein hübsches junges Mädchen aus der römischen Vorstadt, das mitten im heißen Sommer an ihrem letzten Arbeitstag schon vom Strand träumt“, empört sich der Soziologe Ferrarotti, „und dann findest du sie im Leichenschauhaus wieder, das Opfer eines brutalen Mordes. Wie ein Opferlamm.“
Eine scheinheilige Aufregung in einem Land, in dem jedes Jahr allein die Mafia für Dutzende von blutigen Morden verantwortlich ist, die nur noch Kurzmeldungen in den Zeitungen hergeben. Aber so ist das wohl heute in einem zivilisierten Land. Wenn du alt bist, dreckig und versoffen und neben irgendeiner Mülltonne krepierst, dann interessiert sich kein Mensch dafür und du tauchst allenfalls als Zahl in einer Statistik auf. Bist du hingegen jung, sauber und schön und stirbst einen schlagzeilenträchtigen Tod, dann wird deine Leiche ein Medienstar, und du hast mit Sicherheit die öffentliche Empörung auf deiner Seite. Karl Wegmann
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