: Vertriebene auf leisen Sohlen gen Osten
Wirtschaftliche Durchdringung der politischen Westgebiete ist erfolgreicher als martialische Gebietsforderungen Vertriebenenverbände wittern neue Chancen/ Deutsche Vereinigungen in den osteuropäischen Staaten als Verbündete ■ Aus Würzburg Bernd Siegler
„Wir sind quicklebendig in Treue zu Deutschland und unserer Heimat.“ Nachdem der Beifall für den Präsidenten des „Bundes der Vertriebenen“ (BdV), den CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Czaja verebbt ist, schmettern die 350 Teilnehmer des BdV-Mitarbeiterkongresses auf der Würzburger Festung Marienberg die dritte Strophe des Deutschlandliedes. Zwei Tage lang haben sich dort am Wochenende die Vertriebenenfunktionäre Gedanken über die „Zukunft der Deutschen in ihrer Heimat“ gemacht.
Mit dabei waren Vertreter der wie Pilze aus dem Boden geschossenen deutschen Vereinigungen in Polen („Ostdeutschland“), der CSFR, Ungarn, Rumänien, der Sowjetunion und natürlich der ehemaligen DDR („Mitteldeutschland“), die der 2,2 Millionen mitgliederstarke BdV längst unter seine Fittiche genommen hat.
Gerard Bartodziej, Assistenzprofessor an der Technischen Universität in Gliwice („Gleiwitz“), ist einer von ihnen. Der 49jährige Deutschstämmige hat es als Kandidat des „Bürgerlichen Forums“ zum Bürgermeister von Strzelce Opole („Groß-Strehlitz“) gebracht. Für ihn ist das ein Beweis für die „deutsch- polnischen Versöhnung“. In 18 von 63 Gemeinden in der Wojwodschaft Opole („Oppeln“) haben die Deutschen die Mehrheit im Gemeinderat. Stolz erzählt Bartodziej von seiner ersten Aktion als Bürgermeister. Am 20. Juli hatte er den Präsidenten der Paneuropa-Union, Otto von Habsburg, und den BdV-Generalsekretär Hartmut Koschyk nach Strzelce Opole eingeladen. Einen Tag danach forderte von Habsburg vor 20.000 Deutschstämmigen in Lubowitz, eine „Modellregion eines selbstverwalteten Oberschlesiens“ zu schaffen. Bartodziej ist Mitglied der „Deutschen Freundschaftskreise“ (DFK) in Schlesien. Seit ihrer Zulassung Anfang Januar 1990 sind in Polen rund 400 DFK-Ortsgruppen entstanden, die Mehrzahl davon in Oberschlesien. In nur sechs Wochen trugen sich 350.000 Deutschstämmige in die Unterschriftenlisten ein, nahezu die Hälfte aller in Polen lebenden Deutschen. Der DFK stellt derzeit knapp 30 Bürgermeister und hat sich mit anderen deutschen Vereinen zum „Zentralrat der deutschen Gesellschaften in Polen“ zusammengeschlossen.
Friedrich Sikora, Gründer des DFK in Gliwice und Vorstandsmitglied im Zentralrat, weilt in Würzburg als Experte für „Ostdeutschland“. Er wirft den Polen vor, „die einstmals blühende Heimat“ in den Ruin getrieben zu haben und fordert eine „autonome Republik Schlesien“. Auch die Vertreter der „Unionsgesellschaft Wiedergeburt“ (Sowjetunion), des Verbandes der Deutschen in der CSFR , des „Deutschen Kulturvereins“ (Ungarn) und des „Demokratischen Forums der Deutschen“ (Rumänien) bestätigen in den anderen Arbeitskreisen, daß es für „die in ihren Grundfesten erschütterten deutschen Siedlungsgebiete im Osten und die deutsche Kultur eine Minute vor zwölf“ sei.
Aber die Vertriebenen und die in der Heimat Verbliebenen schöpfen neue Hoffnung. Deutsche Chöre und deutsche Kulturzentren entstehen, alte Kriegerdenkmäler werden restauriert und die 'Welt‘ baut den Vertrieb in Schlesien auf. Der BdV hat begonnen, flächendeckend landsmannschaftliche Patenschaften zu knüpfen und versorgt die Vereine zur „Wahrung der kulturellen Identität“ mit Fahnen, T-Shirts, Schreibmaschinen, Zeitungen und Liederbüchern. „Jeden Tag eine kleine Revolution“, freut sich BdV-Generalsekretär Koschyk.
Die „kleinen Revolutionen“ ziehen Kreise. Die CSFR-Bischofskonferenz entschuldigte sich für die Vertreibung. Der CSFR-Botschafter nahm offiziell am sudetendeutschen Tag teil, und Ungarns Außenminister Jeszensky versprach bei der Europakundgebung des BdV in Göppingen den Vertriebenen eine „gerechte Entschädigung“. Eine Delegation der Evangelischen Kirche Deutschlands brachte 50.000 Bibeln in die Sowjetunion, davon 10.000 in deutsch. Die deutsche Botschaft in Warschau versorgte die DFK mit deutschen Schulbüchern und Baden- Württembergs Kultusminister Mayer-Vorfelder schickte als erster zehn Deutschlehrer nach Ungarn. Am 1. Januar 1991 folgt dann der vorläufige Höhepunkt. Der BdV eröffnet in „Groß-Strehlitz“ ein Büro für Wirtschaftsförderung. Dort wird dann, vollsubventioniert von der Bundesregierung, der BdV-Pressesprecher Horst Egon Rehnert westdeutsche Unternehmen zu Investitionen im Dienste der Heimat verlocken.
Rehnert schätzt die derzeitige Situation Polens schlicht als „hoffnungslos“ ein. Kommt es zu dem von Kanzler Kohl angekündigten Vertragsabschluß mit Polen, wollen die Vertriebenen samt ihren Ablegern im Osten mit am Tisch sitzen. Ihre Forderungen sind eindeutig. Sie wollen deutsche Schulen, eine regionale Wirtschaftsförderung und die Anerkennung einer doppelten Staatsbürgerschaft. Für Koschyk geht eine Integration Polens in Europa „nur auf der Grundlage einer engen Kooperation mit Deutschland“ und die gebe es „nicht zum Nulltarif“. Der Preis ist klar: Schlesien, Pommern und Ostpreußen müßten aus dem Staatsgebiet Polens ausgeklammert werden.
Den Vorwurf des Revanchismus weist der BdV jedoch scharf zurück. Es gehe um einen „tragfähigen Ausgleich in einer freien geordneten Vereinbarung“, betont Czaja in seiner Eingangsrede. Auch die zur jungen BdV-Garde zählende blondgelockte Cornelia Littek (33), Chefredakteurin des BdV-eigenen 'Deutschen Ostdienstes‘, hat erkannt, daß „Ausgleich das Wort der Zukunft“ sei. So lassen nicht nur die Vertriebenen, sondern auch Unionspolitiker wie Gastreferent Wolfgang Bötsch, CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, keine Gelegenheit aus, die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950 zu zitieren. Damals hatten sich die Vertriebenenverbände „im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums zum Verzicht auf Rache und Vergeltung“ festgelegt.
Aber die Kongreßteilnehmer wollen eine deutlichere Sprache. „Europa ist doch nur das Zuckerbrot, um von unseren berechtigten Forderungen abzulenken“, empört sich BdV- Aktivist Höchstetter aus dem Harz. Ihm sind die Grenzen von 1937 bei weitem zu eng. „Was ist mit Österreich und dem Memelland“, fragt er unter tosendem Applaus. Sein Kollege Fiedler aus dem Odenwald wirft den Unionsparteien vor, sie hätten sich in der Grenzfrage von der FDP „terroristisch erpressen“ lassen. Für Kriege gebe es immer Entschuldigungen, für „Vertreibung aber keine“. Auch in den Publikationen der Vertriebenen fallen harte Worte. In der Wochenzeitung 'Der Schlesier‘ werden neben Anzeigen der Waffen-SS und einschlägiger rechtsextremer Verlage die Polen als die „rücksichtslosesten Landräuber von Europa“ bezeichnet. Und in BdV- Schriften wird darauf hingewiesen, daß „mit einer bloßen Kulturautonomie ohne eigenes Territorium“ die Deutschen in der Sowjetunion nicht mehr zufriedenzustellen seien. Diese Töne unterscheiden sich in nichts von Positionen der „Republikaner“ („gegen die Zementierung Kleinstdeutschlands“) oder der 'Nationalzeitung‘. Auch sie redet von einem „friedlichen Ausgleich“ und titelt „Deutschland bald noch größer? — Neue Chance für Schlesien“.
Doch bis dahin, das weiß auch Czaja, ist der Weg noch weit. Der BdV will ihn auf leisen Sohlen gehen. „Schritt für Schritt“, so lautet die Devise. Vorerst gelte es, den „Deutschen in der Heimat möglichst viele Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen“, dann komme die wirtschaftliche Hilfe. Das Konzept scheint aufzugehen. Schon frohlockt Dietmar Brehmer, Vorsitzender des Oberschlesischen Wohlfahrtsverbands, daß sich in Polen langsam „eine prodeutsche Stimmung“ entwickelt. Die Ausstrahlung der deutschen Wirtschaftspotenz ist so groß, daß es Edeltraud Maschalik aus Bytom („Beuthen“) schon peinlich ist. „Wir haben hier nur 8.000 DFK-Mitglieder und 258.000 Polen, aber die ganze Stadtverwaltung schaut auf mich.“ Sie endet mit einem Loblied auf den BdV: „Ohne den BdV sind die Deutschen in Ostdeutschland momentan nichts.“ Ohne die Unterstützung durch die Bundesregierung wäre der BdV fast nichts. Die „institutionelle Förderung“ des Dachverbands ist von rund 800.000 DM im Haushalt 1986 auf 2,8 Millionen im Jahr 1990 gestiegen.
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