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„Schweizerschwester, sagen Sie's der Welt...“

Vor 50 Jahren wurden fast 2.000 Juden und Jüdinnen aus Mannheim in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert/ Die Mannheimer Öffentlichkeit gedenkt der Opfer mit einer ungewöhnlichen Ausstellung  ■ Von Günter Rohrbacher-List

Gurs ist ein kleines Dorf in den französischen Pyrenäen, gelegen an der D 936 zwischen Oloron-Sainte Marie und Navarrenx. Wenige Kilometer vor dem Ort gibt es einen deutsch- israelischen Friedhof, zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Internierungslagers Gurs, denen die Deportation nach Auschwitz durch ihren vorzeitigen Tod erspart blieb.

Gurs ist auch das Ende der Jüdischen Gemeinde zu Mannheim, die vor 1933 6.000 Mitglieder hatte und eine der lebendigsten am Oberrhein war.

Am 22. und 23. Oktober 1940 wurden fast alle Juden und Jüdinnen aus Baden, dem Saarland und der Pfalz nach Gurs deportiert. In kürzester Frist, innerhalb von ein bis zwei Stunden mußten sich die völlig unvorbereiteten Menschen an Sammelplätzen einfinden, wurden von Arbeitsplätzen weggerissen, aus Krankenbetten gezerrt. 100 RM, 50 kg Gepäck und etwas Reiseproviant durften sie mitnehmen, jeder für sich, ob Greis, ob Säugling.

Auf die Ereignisse dieses 22. Oktober waren die bedrohten Juden und Jüdinnen nicht gefaßt gewesen. „Zwar gab es gewisse Andeutungen meines nicht-jüdischen Chefs“, erinnert sich Oskar Althausen, einer der Mannheimer Überlebenden von Gurs, „die ein ungutes Gefühl aufkommen ließen.“ Aber niemand hatte dieses brutale Vorgehen erwartet. So eilten Juden und Jüdinnen nach Hause, um aufgeregt und in ihrer Verzweiflung ein paar Stücke einzupacken. Wenig später wurden sie von Gestapo-Leuten aus ihren Wohnungen verwiesen. Es war keine Nacht-und-Nebel-Aktion, wie einige Augenzeugen später berichteten; all das spielte sich am hellichten Tag in voller Öffentlichkeit ab. „Ich erinnere mich, daß wir von unserer Wohnung aus in eine nahegelegene Schule gebracht wurden, und daß am Straßenrand Frauen standen. An einer Straßenecke, ich weiß heute noch genau an welcher, standen zwei Frauen, die Taschentücher vor ihren Mund gepreßt hatten. Als wir vorübergingen, hörte ich eine von ihnen sagen: ,Dafür werden wir noch einmal büßen‘.“

Oskar Althausen war damals 21 Jahre alt, ist, heute 71jährig, einer der letzten acht derer, die aus dem Lager Gurs flüchten konnten und so der Deportation nach Auschwitz entkamen.

Die Jüdische Gemeinde zu Mannheim hatte schon 1938 nach der Reichspogromnacht viele ihrer Mitglieder verloren, die vor dem braunen Terror ins Ausland geflohen waren. Die Deportation nach Gurs war das Werk der beiden badischen und pfälzischen Gauleiter Wagner und Bürckel, die mit der ersten Judendeportation aus dem Westen Deutschlands ihre Gaue „judenfrei“ machten und dies stolz ihrem „Führer“ meldeten.

Doch nicht alle Mannheimer Juden folgten den Anordnungen der Gestapo. Unter dem Eindruck des bevorstehenden Unglücks nahmen sich acht von ihnen im Lauf des 22. Oktober das Leben. Gustav und Luise Lefo, 74 und 65 Jahre alt, vergifteten sich ebenso mit Leuchtgas wie Klara Scharff und Otto Strauss, 64- und 54jährig. Die 62jährige Olga Strauss und die 47jährige Professorin Jenny Dreifuß nahmen eine Überdosis Schlaftabletten, wie auch der 69 Jahre alte Kaufmann Alfred Bodenheimer. Die 73 Jahre alte Nanette Feitler erhängte sich.

Das Leiden der anderen Juden begann bereits auf den Straßen. Schwer beladen wurden diese Menschen von schulfreier Hitlerjugend eskortiert, „die mit Gemeinheiten, Flüchen und Beleidigungen nicht sparte“, wie sich der damals 15 Jahre alte Kurt Bergheimer erinnert. Verspottet, mit Schmutz beworfen, mußten sie Spießruten laufen, konnten und durften sich nicht wehren.

„Im ganzen“, so der Kulturhistoriker Hans-Joachim Fliedner („Die Judenverfolgung in Mannheim 1933—1945“), „stand die Mannheimer Bevölkerung den Gewaltmaßnahmen gegen die Juden ablehnend gegenüber... Für die allgemeine Toleranz der Bürger spricht... auch, daß die jüdische Gemeinschaft erwog, Zentralinstitutionen, wie die Lehrerbildungsanstalt, nach Mannheim zu verlegen.“

Deportation ins „Camp de Gurs“

Doch in der als tolerant geltenden Stadt tobte wenige Jahre später der Nazi-Mob. Schulhöfe wurden zu Sammelstellen, wo den Juden die Wohnungs- und Hausschlüssel entzogen wurden, und ein schier endloses Warten begann, im Nieselregen, ohne Schutz für Alte und Säuglinge, Kranke und Gesunde. Erst am nächsten Morgen um 7 Uhr begann die Fahrt ins Ungewisse, in zwei französischen Personenzügen. Als sie sicher sein konnten, daß Frankreich das Ziel war, glaubten viele an Madagaskar, wohin die Juden nach dem gleichnamigen Plan umgesiedelt werden sollten. Doch die Züge rollten an Marseille vorbei. Vier Tage und 3 Nächte fuhren sie, bis sie das „Camp de Gurs“ erreichten.

In diesem Internierungslager, das ursprünglich für ehemalige internationale Brigadisten und republikanische Flüchtlinge aus dem faschistischen Spanien gebaut worden war, herrschten katastrophale hygienische Verhältnisse. An einer Ruhrepidemie starben in den ersten Wochen 700 Menschen, und der erste (kalte) Winter forderte ebenfalls seine Opfer. Der Schlamm, durch den fortdauernden Regen 75 cm hoch, machte die Fortbewegung im Lager, das bis zu 20.000 Menschen fassen konnte, fast unmöglich.

Es gab auch Menschen, die freiwillig im Lager Gurs lebten, um den anderen in ihrer großen Not zu helfen, sie zu stützen. Der jüdische Kinderarzt Dr. Eugen Neter hatte darauf bestanden, den Transport nach Gurs zu begleiten und sein Schicksal mit dem seiner Glaubensbrüder- und schwestern zu teilen, obwohl er aufgrund seiner Heirat mit einer „Arierin“ verschont geblieben wäre.

Auch die Oberin Pauline Maier kam mit nach Gurs und stieg 1942 mit in den Deportationszug nach Auschwitz, von wo sie nicht wiederkehrte.

Elsbeth Kasser, eine Schweizer Krankenschwester, lebte im Sommer 1940 als freiwillige Helferin des „Service Civil International“, einem Vorläufer des Schweizerischen Roten Kreuzes, in einem Flüchtlingslager bei Toulouse, als sie erstmals von Gurs hörte. Die französischen Behörden erlaubten ihr auf ihr Drängen, das Lager Gurs zu besuchen und waren schließlich auch mit ihrem Bleiben einverstanden: Schweizerisches Milchpulver (so die Erklärung von Frau Kasser) war sehr gefragt, da es im Lager weder Milch noch Kleinkindernahrung gab. Von nun an erhielten alle Kinder unter 15 täglich eine Tasse Milch, und an Samstagen gab es für jeden Ovosport.

Schwester Elsbeth initiierte Selbsthilfegruppen der Internierten, einen Gesundheitsdienst, eine Wäscherei und einen kleinen Kiosk. Und sie förderte das kulturelle Leben in Gurs, waren doch Maler, Musiker, Sänger und Schriftsteller unter den Deportierten, die sich mit ihren Aktivitäten selbst am Leben hielten und den übrigen Lagerinsassen Freude und Abwechslung bereiteten.

Durch ihr karitatives Engagement war Elsbeth Kasser Ziel vieler Liebenswürdigkeiten und Huldigungen seitens der Menschen, insbesondere der Kinder im Lager. Glückwunschkarten zu Ostern, Portraits, schriftliche Liebesbezeugungen erreichten sie, der es gelang, viele dieser Dokumente des Schreckens nebst Zeichnungen, Aquarellen und Fotografien über die Zeit zu retten.

Dokumente erstmals 1989 ausgestellt

Lange hatte sie ihre Sammlung zu Hause in Zürich aufbewahrt. Erst das Vertrauen in zwei dänische Ärzte bewog sie, die Erinnerungen an Gurs zunächst dänischen Betrachtern zugänglich zu machen, im Herbst 1989 im Skovgaard Museum in Viborg. Weiterer Überzeugungsarbeit bedurfte es, der mittlerweile über 80jährigen das Zugeständnis abzuringen, die Ausstellung auch in Deutschland zeigen zu dürfen. Zu stark sind bei Frau Kasser die Erinnerungen an die Menschen in Gurs, vor allem an diejenigen („Schweizerschwester, sagen Sie es in Ihrer Heimat, sagten Sie es der ganzen Welt, was hier geschieht!“), die voller Resignation waren angesichts der bevorstehenden Deportation nach Auschwitz, und ihr letzte persönliche Dinge anvertrauten.

Georges Stern, 45jähriger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Mannheim, hat sein Leben der Verzweiflung und dem daraus erwachsenen Mut seiner Eltern zu verdanken, denen vor der Deportation nach Osten im Frühjahr 1942 die Flucht aus Gurs gelang, und die illegal in Lyon untertauchten, dort mit falschen französischen Papieren als „Elsässer“ überlebten. „Ich bin ein direktes Ergebnis dieses Stücks Mannheimer Geschichte“, sagt Stern, der die Ausstellung der Sammlung Elsbeth Kasser als Chance sieht, vor allem jungen Menschen dieses Stück deutscher Geschichte näherzubringen.

Nach den Stationen Viborg und Pforzheim, wo die Ausstellung schon gezeigt wurde, wird sie nach Mannheim noch in Konstanz und in Hamburg gezeigt.

Im Jüdischen Gemeindezentrum in Mannheim ist die Sammlung Elsbeth Kasser bis zum 18. November zu sehen, geöffnet ist Sonntag—Donnerstag von 10—17 Uhr, Freitag von 10—14 Uhr. Zur Ausstellung, die von Veranstaltungen begleitet wird, ist ein Katalog erschienen; das Schulverwaltungsamt Mannheim hat darüberhinaus gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Stadtgeschichte der GEW eine Dokumentation zur „Deportation Mannheimer Juden nach Gurs“ veröffentlicht.

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