: Das unfreiwillige Comeback
■ Morgen beginnen auf der australischen Insel Tasmanien die Weltmeisterschaften im Rudern Thomas Lange aus Halle, überragender Skuller der letzten Jahre, startet diesmal im Doppelzweier
Berlin (taz) — Mister Henry William Pearce aus Sydney narrte 1928 auf dem olympischen Ruderkurs von Amsterdam die etablierte Skuller- (Einer-)Elite aus Europa und Amerika und stellte damit klar: Australien ist die dritte Ruder-Großmacht. Pearce siegte damals noch in einem knallharten Finalrennen zweier Boote. Vier Jahre später war er in Los Angeles zum großen Ami-Ärger wieder der Schnellste. Der erste Ruder-Olympiasieger vom Kontinent der Känguruhs eröffnete eine lange Erfolgsserie australisch-neuseeländischer Wassersportfreunde, zu denen auch Mervyn Wood gehörte. Als dieser 1948 auf der Themse bei Henley der Konkurrenz satte fünfzehn Sekunden abnahm, stand mit dem Australier der überlegendste Ruder- Olympiasieger aller Zeiten fest.
In den letzten Jahren sind die Ozeanier ein wenig aus den Schlagzeilen des Rudersports geraten. Das soll sich ändern. Nächste Woche schon. Da finden die Weltmeisterschaften 1990 auf dem Lake Barrington (Tasmanien) statt. Auch auf der australischen Insel werden die Skuller wieder mit den großen Achterbooten um den „top act“ des Championats streiten, wobei der Einer-Sieger am ehesten die Chance hat, aus der normalen Anonymität des Ruderdaseins herauszusteigen. Zumal ein Thronfolger gesucht wird, denn Thomas Lange ist nicht mehr am Start.
'Fisa‘-Pressedienst 1987: „Die Sensation von Kopenhagen war das Einer-Rennen der Männer, bei dem nur die Frage offen schien, ob Peter- Michael Kolbe oder Pertti Karppinen ihre Siegesserien fortsetzen würden. Kolbe bezwang Karppinen — und wurde doch nur Zweiter. Der neue Weltmeister heißt Thomas Lange.“ Der damals 23jährige, 1,93 Meter große Hallenser verurteilte die Ruderlegenden K.u.K. zu chancenlosen Verfolgern. Auch bei der Olympiaregatta von Seoul ließ er keinen anderen an den Siegersteg. Zur Hälfte des Rennes schaute er dem direkt neben ihm fahrenden Kolbe freundlich ins Gesicht und zog, ohne eine Miene zu verziehen, seinen unwiderstehlichen Zwischenspurt an.
Das deutsch-deutsche Skuller- Duell war vorher von der Boulevardpresse mit einem balkendicken angeblichen Kolbe-Zitat angeheizt worden: „Die Blaujacke schicke ich wieder zurück in den Doppelzweier!“ Aber Kolbe selbst widerlegte nach dem Rennen jede Kriegsstimmung mit einem fairen Händedruck. Tat der fünfmalige Weltmeister seinem Nachfolger in diesem Moment leid? „Wieso Mitleid?“, konterte Thomas Lange, „ich habe Achtung vor einem, der das dritte Mal Olympiasilber gewann.“
Es gehört zu Langes Grundverständnis vom Leistungssport, Fähigkeiten seiner Kontrahenten ehrlich anzuerkennen. Der Kampf gegen den Menschen stand für ihn immer hinter dem Kampf gegen sich selbst. Und der war meist schwerer, da die Ruderkollegen sein Kielwasser selten verlassen haben. Die Liste der Erfolge Thomas Langes kann als Paradebeispiel für das DDR-Sportsystem archiviert werden. Spartakiadesieger, Juniorenweltmeister, Weltmeister im Doppelzweier (mit Uwe Heppner) und dann im Einer: 1987 WM-Gold, 1988 Olympiasieg, 1989 WM-Gold. Seinen letzten Titel gewann er mit bedeutend geringerem Trainingsaufwand, Beweis seiner rudersportlichen Genialität.
Nach Tasmanien wollte er eigentlich gar nicht. Die Rückstände im Studium (4. Semester Medizin an der Luther-Uni Halle) — angebotene Sonderstudienpläne hatte er abgelehnt — sollten aufgeholt werden, mehr Zeit für Frau und Kinder (zwei Söhne, drei und sechs Jahre alt) bleiben. Doch die Zeit war nicht nach langfristigen Plänen. Seiner Frau wurde ihre Stelle als Rudertrainerin gekündigt, er selbst bekommt 280 Mark Stipendium. Eine WM-Medaille muß her und mit ihr 800 Mark Sportförderung monatlich. Alte Erfolge zählen nicht, so rückte die 90er WM ins Blickfeld, obwohl er noch im August beteuerte: „Im Moment kann ich besser laufen als rudern.“ Am 10.September setzte er sich mit Stefan Ullrich zum erstenmal in einen Doppelzweier. Drei Wochen später schlugen sie die anderen WM- Kandidaten und buchten die Tasmanien-Tickets — für die Bootsklasse, in der Thomas Lange einst begann.
Ein neuer Start in mehrfacher Hinsicht. Sein Vater, ein hoher Stasi- Offizier, hat im Frühjahr Selbstmord begangen und viele unbeantwortete Fragen über das alte und neue Land zurückgelassen. Das erbarmungslose Hineinknien in die unerwartete Weltmeisterschaftschance half Thomas Lange, sich abzulenken vom quälenden Grübeln.
Lange ist Favorit. Immer wenn er startet, ist er das. Die WM soll Zwischenstation auf seinem Weg ins olympische Barcelona sein. Nach möglichen Privilegien eines Olympiasiegers befragt, antwortet Thomas Lange einmal: „Man hat den unschätzbaren Vorteil, vier Jahre später zum zweiten Mal Olympiasieger werden zu können.“ Hagen Boßdorf
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