: »Unsere Leute können sich sowenig wehren«
■ Das Werk für Fernsehelektronik in Oberschöneweide ist mit 9.000 MitarbeiterInnen der größte Betrieb im Osten Berlins, doch die Hälfte der Belegschaft wurde in Kurz- und Nullarbeit geschickt und wird wohl im nächsten Jahr entlassen
Oberschöneweide. In Berlins historischem Industriestandort Oberschöneweide hat der heiße Herbst begonnen. ArbeiterInnen aus dem Werk für Fernsehelektronik, dem Kabelwerk Oberspree und der Transformatorenfabrik Oberschöneweide besetzten gestern in gemeinsamer Aktion die Räume ihrer jeweiligen Geschäftsleitung. »Wir wollen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit!« verlangten in einer begleitenden Spontandemonstration Tausende von KollegInnen, die in den vergangenen Monaten auf Nullarbeit gesetzt worden waren. »Das darf doch nicht wahr sein«, drückte eine Rednerin unter großem Beifall die Stimmung von vielen aus, »wir sitzen ohne Arbeit zu Hause und müssen jede Mark umdrehen, während rings um uns her alles zerfällt, während es im Bereich Umweltschutz und Energieanlagen, im Bereich der Medizin oder der Klimaforschung und allüberall an modernen Geräten fehlt, die wir in unseren Fabriken herstellen könnten.« Und weiter: »Wir haben uns deshalb entschlossen, unsere Passivität nicht weiter mit dem lächerlichen Kurzarbeitergeld bezahlen zu lassen. Mit dem heutigen Tage nehmen wir unser Schicksal in die eigenen Hände, in neu gebildeten Arbeitskreisen haben wir bereits begonnen, alternative Produktpaletten auszuarbeiten, und den Herren in den Chefetagen und der Treuhandanstalt werden wir nicht mehr von der Seite weichen, bis sie unseren Forderungen nach gesellschaftlich sinnvoller Arbeit nachgeben!«
So hätte es vielleicht sein können. Aber in Oberschöneweide hat der so oft beschworene heiße Herbst genausowenig stattgefunden wie anderswo; Passivität und Resignation, zwei der übelsten Erbschaften des Realsozialismus, haben verhindert, daß er auch nur lau wurde. Kalt ist der Herbst, und Tausende auf Kurzarbeit gesetzte Beschäftigte aus jenen drei Großbetrieben und anderen Fabriken sitzen ängstlich hinterm Ofen.
Nullarbeit für Tausende
Nehmen wir das Werk für Fernsehelektronik, kurz WF genannt. Nicht zufällig überragt der Wasserturm an seinem grau verputzten Haupthaus, von 1915 bis 1917 von dem Architekten und Designer Peter Behrens gebaut und mittlerweile unter Denkmalschutz gestellt, das gesamte Industriegebiet an der Oberspree, in dem zusammengezählt immerhin rund 50.000 Menschen arbeiten. Das WF ist dabei nicht nur dort, sondern im ganzen Osten Berlins der größte Betrieb — auf seinem ausgedehnten Gelände und in seinen Außenstellen werkeln ungefähr 9.000 Beschäftigte. Nominell. Denn seit der Währungsunion wurden bereits fast 4.500 Leute, fast die Hälfte der Belegschaft, auf Kurzarbeit gesetzt, die außerdem für neun von zehn Personen faktische Nullarbeit bedeutet. »Ich habe eine Weile gebraucht, um zu kapieren, daß die Kurzarbeit nur dafür da ist, um die Arbeitslosenstatistik zu beschönigen«, sagt einer derjenigen, die ab morgen nichts mehr zu tun haben.
Allerdings, gibt er zu, sei die Weiterbezahlung von 85 Prozent der bisherigen Bezüge an Kinderlose und 90 Prozent an Beschäftigte mit Kindern natürlich besser als das Arbeitslosengeld oder die Frührente. Und er hätte bei einer unkaschierten Entlassung auf dem Arbeitsmarkt sicherlich keinerlei Chancen mehr. »Wenn ich mich mit meinen 57 Jahren noch mal irgendwo bewerbe«, sagt er, »ist das nur lächerlich.« Er senkt den Kopf: »Nach zwanzig Jahren Betriebszugehörigkeit ist das schon etwas bitter.«
Ähnlich wie ihm ergeht es vielen. Und doch ist im Werk, an seinen Informationstafeln und Schwarzen Brettern kein Zeichen des Protestes oder gar Widerstandes zu entdecken. Aus dem ehemaligen realsozialistischen Musterbetrieb scheint ein Musterbeispiel für passiven Betriebsfrieden geworden zu sein.
Ist es das Kurzarbeitergeld, das die Leute ruhigstellt, oder ist es die dünne Hoffnung, daß die Treuhandgesellschaft den Betrieb schon über die Runden bringen wird? Die Herren von der Treuhand werden nämlich innerhalb der nächsten vier Wochen mit dem Daumen nach oben oder nach unten zeigen. Zwar hat das seit Juli zu einer GmbH umgewandelte Werk für Fernsehelektronik bereits einen an Kooperation interessierten Westkonzern gefunden, doch in diesem Zusammenhang fegen derzeit Schweizer Wirtschaftsprüfer durch den Betrieb, um der Treuhand eine Analyse über die ökonomische Lebensfähigkeit des Unternehmens zu erstellen. Denn, und das ist auch der Grund für die seit der Währungsunion schubweise eingeführte Kurzarbeit, die Produkte der WF sind auf dem Weltmarkt zu teuer und zuwenig marktfähig. Die in diesem Werk hergestellten elektronischen Bauelemente und Farbbildröhren werden im fernöstlichen Raum bereits zu einem Fünftel des hiesigen Preises angeboten. Außerdem sind die gewölbten Bildschirme, die hier seit 1984 in japanischer Lizenz produziert werden, immer weniger gefragt.
»Zu Weihnachten gibt es entweder blaue Briefe oder eine klare Zukunftsperspektive«, sagt deshalb Michael Engler, der im 31köpfigen Betriebsrat für Öffentlichkeitsarbeit und Tarifpolitik freigestellt ist. Erst vor wenigen Tagen war eine Abordnung des Betriebsrates bei den Herren von der Treuhand, »aber die sind ganz cool«. Die Illusion, daß selbst im besten Falle auch nur die Mehrheit der Beschäftigten übernommen würde, macht er sich nicht: »Wir sind nicht in der Lage, alle sozialen Härten zu vermeiden. Das lastet moralisch auf uns, aber wir können es nicht vermeiden.« Schon jetzt mußten verschiedene soziale Einrichtungen ausgegliedert oder stillgelegt werden, die den Betrieb einst zu einer halben Kleinstadt mit eigenem Jugendklub, Sportanlagen, Poliklinik, Ferienobjekten, Berufsbildungszentren, Kulturhaus, Kinderunterbringung und Betriebsradio machten.
»Die da oben werden es schon regeln«
Untätigkeit kann dem im Juli provisorisch eingesetzten Betriebsrat, der sich Mitte November mit einer einheitlichen Liste der IG Metall zur Wahl stellt, dabei nicht vorgeworfen werden. Die Mitglieder der Ausschüsse für Kurzarbeit und für Bildung geben sich viel Mühe, ihre auf Nullarbeit gesetzten KollegInnen auf Umschulungmöglichkeiten oder auch freie Arbeitsplätze in der Produktion hinzuweisen. Die Angebote wurden jedoch »nicht in der Größenordnung in Anspruch genommen, wie wir erhofft hatten«, sagt Betriebsrat Engler. Auch er beklagt die Passivität: »Es ist bis heute nicht ins Bewußtsein der Leute gedrungen, daß es so nicht weitergeht. Immer noch herrscht der naive Glaube, daß irgend jemand da oben das alles regeln wird. Dabei aber werden unsere Kurz- und Nullarbeiter mit 99prozentiger Sicherheit am 1. Juli 1991 entlassen, denn dann läuft der bisherige Tarifvertrag aus.«
»Unsere Leute können sich sowenig wehren«, sagt auch seine Kollegin Boxhorn, die im Auftrag des Betriebsrates eine Anlaufstelle für Kurzarbeiter unterhält und dort tägliche »Sorgensprechstunden« abhält. »Sie haben einfach noch nicht gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Wie auch, wenn man plötzlich von einer Gesellschaftsordnung in die andere purzelt?« Sie möchte die Menschen um sie herum in Schutz nehmen und die Schuld am gegenwärtigen Hängezustand eher der Treuhand zuweisen: »Auf bestimmten Produktionsstrecken wären wir sicher sanierungsfähig. Warum haben die sich Monate Zeit gelassen, um das erst jetzt durchzuchecken?«
Nach ihrer groben Schätzung sind es bisher nur ungefähr zehn Prozent aller Kurzarbeiter, die Umschulungsangebote des Arbeitsamts in Anspruch nehmen. Zum Teil, sagt sie, liege das auch an fehlenden Kapazitäten. Im Bildungsausschuß des Betriebsrates werde jetzt aber die Möglichkeit angedacht, mit externen Partnern zwölf Bildungsgesellschaften zu gründen, um insgesamt 3.000 von Entlassung Bedrohten eine Perspektive auf Zeit zu bieten. Wenn schon keine Alternativprodukte, dann vielleicht wenigstens Weiterbildung. Ute Scheub
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen