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Politbüro hätte nie zugestimmt

■ Professor Daschitschew über die Deutschlandpolitik und die Krise der SU INTERVIEW

taz: Sie haben offensichtlich der Versuchung widerstanden, Politiker zu werden, und arbeiten weiter als Wissenschaftler und Berater. Ihr Institut (ehemals für die Wirtschaft des „sozialistischen Weltsystems“ zuständig) hat allerdings wie so manches andere seinen Namen gewechselt.

Prof. Daschitschew: Das stimmt. Viele Namen waren im Gespräch, z.B. Institut für Probleme des Postkommunismus. Wir haben uns auf Institut für internationale wirtschaftliche und politische Studien geeinigt.

Ihr Institut hat sich als Think- tank für die Perestroika in Sachen Außenpolitik erwiesen. Wie kam das?

Seit langer Zeit schon haben wir vorgeschlagen, die Orientierungen der Außenpolitik zu ändern. In der Abrüstungsfrage plädierten wir statt des „Gleichziehens“ für „vernünftige Hinlänglichkeit“. Es dauerte sieben Jahre, bis sich das durchsetzte.

Ganz so einfach scheint es auch jetzt für Sie nicht zu sein. Erst vor wenigen Monaten erklärte der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums ausdrücklich, Sie würden nicht zum Beraterkreis Gorbatschows zählen.

Damals habe ich bewiesen, daß die Eingliederung des vereinten Deutschland in die Nato dann nicht den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion widerspricht, wenn sie von vernünftigen Kompromissen des Westens begleitet wird, z.B. der Änderung der Nato-Doktrin. Das hat einigen Leuten nicht gefallen. Beraten hat unser Institut die Regierung übrigens immer — Breschnew leider erfolglos, Andropow hat uns zugehört, Tschernenko war taub, bei der neuen Führung haben wir schließlich Resonanz gefunden.

Wie erklären Sie sich eigentlich den dramatischen Umschwung in der sowjetischen Deutschlandpolitik zwischen dem 2+4-Treffen in Berlin und der Kohl-Gorbatschow- Begegnung im Vorkaukasus?

Es gab und gibt in der sowjetischen Deutschland- und Europapolitik zwei Tendenzen. Nach der einen Position diente der Status quo einschließlich der Teilung Deutschlands am besten den Sicherheitsinteressen der SU. Die andere Tendenz hielt den Status quo, der das Ergebnis der stalinistischen Expansionspolitik in Osteuropa gewesen war, für schädlich. Nach dieser Auffassung mußte sich die Sowjetunion zu ihrem Nachteil dem vereinigten Westen konfrontieren. Unser Potential betrug nur 1/4 dessen der westlichen Großmächte. Unsere Ökonomie wurde durch das Wettrüsten unterhöhlt, wir selber von der Außenwelt, vom technischen Fortschritt und nicht zuletzt von den globalen Prozessen der Demokratisierung abgeschnitten. Es bedurfte einiger Zeit, bis sich die Meinung durchsetzte, daß die Spaltung Deutschlands unseren Interessen zuwiderläuft. Jetzt erklärt Portugalow für das ZK der KPdSU, die Sowjetunion hätte dem Generalvertrag nie zugestimmt, wenn er ihren Interessen widersprochen hätte. Was aber ist mit den 40 Jahren vorher? Entsprach damals die Teilung Deutschlands unseren Interessen? Oder war es nicht so, daß unsere ganze Nachkriegspolitik falsch war? Bis jetzt gibt es Anhänger der alten, der „Gromyko-Schule“. Aber heute herrscht die Einsicht vor, daß ohne die Aufhebung der deutschen Spaltung die Spaltung Europas nicht zu überwinden gewesen wäre. Einer der wesentlichen Faktoren, die zur Umorientierung führten, war die Entmachtung des Politbüros der KPdSU und der Transfer der Entscheidungsmacht auf den Präsidialrat. Im Politbüro mit seinen alten Anhängern des Großmachtdenkens wäre die neue außenpolitische Linie nie durchgekommen.

Wäre es möglich gewesen, hinsichtlich der Auflösung beider Militärblöcke in den Verhandlungen mehr herauszuholen?

Man muß sich immer in die Lage des anderen versetzen. Die Instabilitäten der Sowjetunion, die Unberechenbarkeit der Krise hat den Westen zu seinen nur halbherzigen Maßnahmen veranlaßt. Das muß man begreifen. Erinnern Sie sich an die kurzgefaßte Bestimmung der Nato: „We must keep the Russians out, the US in and the Germans down.“ Wenn die Sowjetunion ein stabiler, demokratischer Rechtsstaat sein wird, gibt es keinen Grund, sie aus Europa herauszuhalten, amerikanische Truppen werden zu diesem Zweck nicht mehr nötig sein, und die Deutschen niederzuhalten ist sowieso schon obsolet.

Sie setzen auf den Lauf der Zeit?

Sicher. In Europa wird eine neue Konstellation entstehen, eine friedliche Ordnung, aber nicht im Sinne der Vorkriegszeit. Gott behüte uns davor. Im Gegensatz zum Vorkriegseuropa trennen uns keine ideologischen Mauern mehr. Die Integrationsprozesse im westlichen Europa werden sich nach Osten, auch in Richtung der Sowjetunion fortsetzen.

Wird Gorbatschows Besuch in der BRD erfolgreich sein, vor allem was zusätzliche ökonomische Unterstützung anlangt?

Wir müssen erst mal günstige Voraussetzungen für die Tätigkeit ausländischer Investoren schaffen. Kredite an sich nutzen nichts. Ohne konsequente Schritte zur Marktwirtschaft stabilisieren Kredite und Hilfen nur das alte, bankrotte Leitungssystem. Viele Sowjetbürger haben Angst vor einem solchen Effekt. Was Gorbatschow anlangt, so kommt er einfach nach Bonn, um den Generalvertrag zu unterzeichnen.

Wie stehen Sie zu den Befürchtungen, die von möglichen „Sonderbeziehungen“ der Sowjetunion zu Deutschland ausgehen?

Im Westen gibt es Bedenken. Nicht von ungefähr spricht man von „Stavropallo“ (Stavropol plus Rapallo). Wir müssen zu einer neuen außenpolitischen Doktrin kommen; niemand darf jemanden gegen einen anderen ausspielen. Unsere Nachkriegspolitik versuchte sich in solchen Spaltungsmanövern und ist damit gescheitert. Wir müssen heute die Interessen aller Staaten berücksichtigen und werden das auch tun. Deshalb denke ich nicht an ein neues Rapallo. Allerdings wünsche ich mir sehr gute Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Geschichtlich und kulturell gibt es ein großes gemeinsames Erbe, an das wir anknüpfen können. Unsere Ökonomien ergänzen sich. Vor allem aber teilen wir die Erfahrung des Leides, der Tragödie, die der Totalitarismus unseren Völkern gebracht hat. Das deutsche Volk wurde durch die Anti- Hitler-Koalition vom Totalitarismus befreit, wir müssen uns selber befreien. Das ist sehr schwer.

Es ist schwerer und leichter zugleich.

Viel schwerer, denn der deutsche Faschismus hat nur zwölf Jahre gedauert.

In Deutschland gibt es viel Beunruhigung wegen des Auseinanderfallens der Sowjetunion, der Gefahr eines militanten Nationalismus sowohl in Rußland als auch in den anderen Sowjetrepubliken.

Ich akzeptiere die Unabhängigkeitsbestrebungen. Sie sind die unvermeidliche Folge der Transformation unseres politischen Systems. In vielleicht fünf Jahren wird sich die jetzt dominierende nationale Euphorie gelegt haben. Ernüchterung spürt man jetzt schon. Wir, die ehemaligen Sowjetrepubliken, sind einfach zu stark aufeinander angewiesen. Nicht nur im ökonomischen Bereich, aber vor allem da.

Akzeptieren Sie den Satz „Wer gehen will, soll gehen“?

Ja. Ich denke aber, daß von der Marktwirtschaft starke Bindungen für alle Nationen der ehemaligen Union ausgehen werden. Das fehlte uns früher. Auch die baltischen Staaten werden, vermittelt über den Markt, Kooperationsbeziehungen unterhalten. Die alte Union kann nicht fortgeführt werden. Welche Form eine neue haben wird, wird sich herausstellen.

Ist es nicht zu spät für einen neuen Vertrag?

Nein, denn es geht um einen Prozeß. Im Moment dominiert die Desintegration. Aber der erstarkende Markt wird diese Tendenz aufhalten und umkehren. Der Schwerpunkt der Macht wird sich auf die Republiken verschieben, und von diesem neuen Ausgangspunkt aus werden die Kompetenzen der Zentrale und der Republiken neu ausgehandelt werden. Ideal wäre ein Entwicklungsprozeß wie der der EG. Zunächst eine Zollunion, später gemeinsame wirtschaftliche und politische Institutionen.

Diese Analogie erscheint mir angesichts des bürokratischen EG- Zentrums etwas fragwürdig.

Auch der EG-Prozeß ist noch nicht an seinem Ende angelangt. Interview: Christian Semler

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