: „Ihre Entschuldigung nehme ich nicht an, Herr Pätzold!“
■ Offener Brief einer 1968 gemaßregelten ehemaligen Geschichtsstudentin der Humboldt-Universität an den Historiker Professor Kurt Pätzold DOKUMENTATION
Aufgrund des taz-Berichtes vom 17.10.90 über die Schwierigkeiten der Historiker der Berliner Humboldt-Universität mit ihrer eigenen Geschichte schrieb eine frühere Studentin den hier in Auszügen dokumentierten offenen Brief. Am Samstag, den 10. November, 10 Uhr im Senatssaal der Humboldt-Uni werden die Ostberliner Historiker zum zweiten Mal versuchen, sich der eigenen Geschichte zu stellen.
Einem Brecht-Bonmot zufolge mußte sich am 17. Juni 1953 noch ein regimetreuer Schriftsteller vor seiner aufgebrachten Leserschar verbarrikadieren. Im Oktober 1990 haben regimestützende und -stärkende Geschichtsdozenten wie Sie, Herr Pätzold, offenkundig nichts mehr von ihren einstigen studentischen Opfern zu fürchten. Wie denn auch? Überzeugungstäter wie Sie haben ihnen das Rückgrat gebrochen, sie in den gebückten Gang, in die Resignation, in die innere Emigration und außer Landes getrieben.
Wer — wie ich — einmal erlebt hat, wie Sie im Frühjahr 1968 die Studenten der Ihnen zugeordneten Historiker-Diplomanden-Gruppe — ähnlich dem „Vertrauensdozenten“ an bundesdeutschen Universitäten — doch gemessen an Ihrer Aufgabenauffassung wäre diese Bezeichnung für Ihre damalige Funktion denn doch ein allzu starker Sarkasmus — immer wieder mit Nachdruck aufforderten, ihre Meinung zum „Prager Frühling“ zu bekunden, um sie dann im Herbst 1968 eben wegen dieser Meinungsäußerungen unerbittlich anzuprangern und schließlich von der Universität zu jagen, der vergißt das sein Leben lang nicht mehr.
Wußten Sie und Ihresgleichen im Frühjahr 1968 selbst noch nicht so recht die Situation in der Tschechoslowakei einzuschätzen — die Verunsicherung grassierte, die ideologischen Orientierer warteten noch ab und hielten sich einstweilen bedeckt — so drängten Sie uns, die Studenten, dafür, doch „offen und ehrlich“ über die Vorgänge zu diskutieren, eine Einschätzung zu versuchen. Als dann „die Lage wieder klar war“, Deutsche zum zweiten Mal in das Nachbarland einmarschiert waren, diesmal im Verein mit den „befreundeten Verbündeten“, die „proletarische Wachsamkeit“ also gesiegt hatte, da wurde Gericht gehalten über die Sympathisanten der nunmehr Okkupierten.
Da konnte man wirlich etwas lernen, so man sich auf die Seite der selbsternannten „Sieger der Geschichte“ schlagen wollte. Aber mancher wollte ja nicht so recht, zeigte sich noch immer schwach uneinsichtig. Also wurde flugs die Seminargruppe aufgelöst und jedes Seminarmitglied in die Mangel genommen. In allen möglichen Gruppen- und Einzeltribunalen — auch vor der FDJ-Leitung — hatte sich jeder für mangelnde Wachsamkeit gegenüber den „gefährlichen Entwicklungstendenzen innerhalb der Seminargruppe“ zu verantworten, mußte Einsicht und Reue erkennen lassen. Da ich als einzige nicht in der FDJ war, wurde mir die zweifelhafte Ehre eines eigens für mich gebildeten Sonderausschusses, bestehend aus mehreren Angehörigen des Lehrkörpers und natürlich einem zutragenden Studenten der besonderen Art aus unserer Gruppe zuteil. (Übrigens der dümmste Vertreter der ganzen Gruppe, Mielke sei's geklagt, der sich jedoch ungeachtet seiner äußerst mangelhaften studentischen Leistungen gerade Ihrer uneingeschränkten Protektion erfreute, Herr Pätzold. Nun, sie beide werden schon wissen, warum.) Dieser Ausschuß, dem selbstverständlich auch Sie, Herr Pätzold, angehörten, zeigte sich bald ziemlich ungehalten über meine fehlende Lernbereitschaft.
Da nun das Ende meines Studiums vor der Zeit absehbar war, wollte ich wenigstens nicht unvorbereitet in das kommende Verfahren gehen. Also saß ich als einsame Zuhörerin am Tage der Verhandlung gegen vier Kommilitonen mit im Raum. Wie ich herausgefunden hatte, war eine universitätsinterne Öffentlichkeit zulässig. Nach allseitiger mißtrauischer Fixierung kam ein Mitglied des Exmatrikulationsausschusses nach dem anderen auf mich zu, fragte barsch, was ich da wollte, und verpflichtete mich auf äußerstes Stillschweigen. Kein Wort von dem, was verhandelt werde, dürfe nach draußen dringen (warum wohl?). Als sich das zum dritten oder vierten Mal wiederholte, versuchte ich, die Prozedur abzukürzen. Ich wisse schon Bescheid und hätte bereits mehrfach versprochen ... Aber es schien nun einmal zu den Pflichten eines jeden Ausschußmitgliedes zu gehören, und so gelobte ich auch noch dem allerletzten, niemals irgend etwas ...
Und dann hob ein Spektakel abstrusester Natur an. Hochschullehrer, bar jeder humanen Orientierung, attackierten erbarmungslos ihre Studenten.
—„Sie haben in einer Kneipe den Aufruf eines Feindsenders erwähnt, gegen den Abriß der Potsdamer Garnisonskirche zu protestieren“ (ganz übel, den Einflüsterungen des Klassenfeindes erlegen).
—„Sie wollten das mehrfach in einer Vorlesung zitierte Buch von F.J. Strauß selber und zur Gänze lesen und haben sich um eine spezielle Ausleiherlaubnis dafür bemüht (Rezensentenstandpunkt, seit langem von der Partei bekämpfter Objektivismus).
—„Sie haben den gefahrvollen Friedensdienst unserer Soldaten am antifaschistischen Schutzwall zusätzlich erschwert“ (angetrunken seiner Untermiete unmittelbar an der Mauer zustrebend und widerspenstig auf die Aufforderung reagierend, zügig weiter zu gehen und da nicht rumzutrödeln).
—„Sie haben — aufgefordert, einen Diskussionsbeitrag zum Hochschulreformentwurf zu leisten — die Verkürzung des gesellschaftlichen Grundstudiums für den Historikerstudiengang aus Gründen der Zeitökonomie vorgeschlagen, da einige Teile ohnehin Bestandteil des Studienganges seien“ (hat überhaupt nicht verstanden, worauf es ankommt) usw.
Und Sie, Herr Pätzold, haben, als verantwortlicher Dozent das Ganze vorantreibend, sich ohne Hemmungen der zum Teil aus schmuddeligen Quellen stammenden Informationen bedient.
Das Verhandlungsergebnis ist bekannt, Sie haben es ja unlängst noch einmal in Erinnerung gebracht: Bewährung in der Produktion für diese Gesellschaftsfeinde. [...]
Wie ich höre und lese, lieben Sie die räumliche Distanz bei heraufziehenden Unannehmlichkeiten, „auswärtige Verpflichtungen“, mehrmonatige Studien im Bundesarchiv Koblenz. Forschen Sie wohl, Herr Pätzold, genießen Sie Ihren „internationalen Rang als Faschismusforscher“ und lassen Sie sich nicht beirren von dem Appell des Verbandsvorsitzenden der Historiker Deutschlands, Wolfgang J. Mommsen, auf dem jüngsten Historikertag in Bochum, die allzu belasteten Kollegen aus Deutschland-Ost möchten doch von sich aus ins zweite Glied zurücktreten. Und bleiben Sie auch Ihren Studenten weiterhin am Vorlesungspult erhalten. Die Geschichtsstudenten brauchen jetzt vor allem glaubwürdige, vertrauenswürdige und demokratiefähige Dozenten.
Soll das wirklich schon alles gewesen sein? Ich jedenfalls finde: Es ist zu wenig, Herr Pätzold.
Ihre ehemalige Studentin von 1966 bis 1969
Beatrix Herlemann, geb. Schneider
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