piwik no script img

Umverteilung für die Ost-Kollegen?

■ Das schwierige Geschäft der west-östlichen Tarifpolitik

Auch die Arbeitgeber hätten das Ziel, die Löhne und Gehälter in den fünf neuen Bundesländern auf West-Niveau zu heben, meinte Werner Stumpfe, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Aber Lohnerhöhungen ohne Berücksichtigung der niedrigeren Produktivität der ostdeutschen Betriebe bewirkten höhere Arbeitslosigkeit. Mit dieser Stellungnahme reagierte er auf seinen tarifpolitischen Widerpart, den IG-Metall- Vorsitzenden Franz Steinkühler, der während des außerordentlichen Kongresses seiner Gewerkschaft angeregt hatte, die Lohnangleichung zwischen Ost und West durch eine solidarische Verwendung der „Umverteilungskomponente“ zu beschleunigen. Wie das allerdings konkret aussehen könnte, ließ Steinkühler offen.

Aus gutem Grund, denn ausformuliert sind die Vorstellungen in der IG Metall über eine mögliche „solidarische Tarifpolitik“ noch nicht. Zwar können sie die Bindung an die Produktivitätssteigerung, wie Stumpfe sie fordert, nicht einfach als Unternehmerpropaganda abtun. Auf der anderen Seite aber sind sie dem Druck ausgesetzt, so schnell wie möglich gleichen Lohn für gleiche Arbeit in Ost und West durchzusetzen. Die Gewerkschaften spielen bei dem Projekt, die Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland in überschaubarer Zeit einander anzugleichen, zweifellos den schwierigeren Part.

Die Gewerkschaft HBV beispielsweise will die Einkommensangleichung in spätestens zwei Jahren durchsetzen. Sie ist im Einzelhandel, bei den Versicherungen und Banken allerdings nicht in gleicher Weise von der Produktivitätsentwicklung abhängig. Auch die ÖTV wird wahrscheinlich eine Vorreiterrolle bei der Lohnangleichung spielen, denn es dürfte kaum lange durchzuhalten sein, die Busfahrer und Müllwerker etwa im Großraum Berlin zu gespaltenen Tarifen zu entlohnen.

Im größten Bereich, der Metallindustrie, geht die Gewerkschaft davon aus, daß über fünf Jahre hinweg im Osten Lohnsteigerungen von rund 30 Prozent durchgesetzt werden müßten, um den Vorsprung der West-Kollegen aufzuholen. Außerdem wird es krasse Produktivitätsgefälle auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zwischen alten und neu errichteten Werken geben, die mit modernster Technologie ausgestattet sein und zum Teil eine höhere Produktivität aufweisen werden als in westdeutschen Produktionsstätten. Es dürfte schwer durchsetzbar sein, so die IG Metall, den VW-Werkern am künftigen Standort Zwickau über längere Zeit niedrigere Löhne zuzumuten als den Wolfsburger Kollegen, zumal, wenn dies allein dem Konzern zu höheren Gewinnen verhelfe.

Derzeit sieht die IG Metall ihre wichtigste Aufgabe in der Angleichung der Lohnstruktur zwischen Ost und West. Darüber besteht Einigkeit mit den Unternehmern, denn die haben ein Interesse daran, den im alten DDR-Lohnsystem benachteiligten qualifizierten Arbeitskräften, den Meistern und Angestellten, schnell einen Anreiz zum Bleiben zu bieten. Bis Ende März sollen Unternehmen und Betriebsräte diese gigantische Aufgabe bewältigen: Jeder einzelne Arbeitsplatz muß begutachtet und in eine der neuen Lohngruppen eingestuft werden. Allein dadurch können die bisher besonders benachteiligten Beschäftigtengruppen mit Lohnerhöhungen bis zu tausend Mark rechnen.

Zwar laufen die gegenwärtigen Lohntarife im Osten bereits zum 1.1.91 aus. Aber es gibt Überlegungen, sie erst zum 31.3.91 zu kündigen. Zu diesem Zeitpunkt laufen nämlich auch im Westen die Lohntarife aus. Und in einer gemeinsamen Tarifrunde für ganz Deutschland lasse sich glaubwürdiger Solidarität praktizieren. Wie? Den Unternehmern will man jedenfalls keinen Pfennig schenken. Aber eine Begrenzung des Lohnanstiegs im Westen, die einem um so schnelleren Anstieg im Osten zugute kommt, wird nicht ausgeschlossen. Martin Kempe

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen