: Lebendige Gespenster
Krivitsky: Ein Geheimdienstchef wird zum Renegaten ■ Von Michael Rohrwasser
Walter Krivitsky wendet sich im Dezember 1937 in Frankreich mit einem Brief an die Öffentlichkeit. Er sei seit 1919 Bolschewik und habe sich viele Orden verdient. Doch die Verhaftung und Erschießung vieler Unschuldiger hätten ihn nun bewogen, seine Position aufzugeben und sich der Rehabilitierung jener zu widmen, die zu Unrecht angeklagt und ermordet worden seien. Er fügt hinzu: „Ich weiß — und kann es beweisen —, daß auf meinen Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist. Ich weiß, die OGPU wird vor nichts zurückschrecken, um mich zum Schweigen zu bringen, durch Mord. Jeshow hat Dutzende von Leuten zur Verfügung, die zu allem bereit sind, und sie sind schon hinter mir her. Ich halte es für meine Pflicht als militanter Revolutionär, dies alles der internationalen Arbeiterklasse zur Kenntnis zu bringen.“
Renegatenberichte sind bisher nicht eingebettet in Literaturgeschichte, sondern in die Geschichte des Stalinismus: Die Gespenster, die in den Büchern beschworen werden, waren lebendig und konnten ihre Autoren einholen. Walter Krivitsky, zuvor eine der zentralen Figuren im sowjetischen Geheimdienst und dann einer der frühesten Renegaten, ist es 1914 so ergangen. Er schließt sein Buch, in dem er seine Flucht aus Stalins Reihen in die amerikanische Öffentlichkeit beschreibt, mit der Schilderung eines Entführungsversuchs, mit dem die sowjetische Geheimpolizei sich an dem Abtrünnigen rächen will. Sein Renegatenbericht endet mit der Zeile: „Ich war noch einmal mit heiler Haut davongekommen.“ Der Satz läßt sich als der selbstverfaßte Nekrolog eines zur Exekution Verurteilten lesen. Keine zwei Jahre später, am 10.Februar 1941, berichtet die 'New York Times‘: „Der ehemalige militärische Geheimdienstchef für Westeuropa, Walter G.Krivitsky, Mitglied von Stalins Führungskreis, wurde am frühen Morgen in einem Zimmer des 5.Stocks des Hotel Bellevue, Nähe Union Station, tot auf seinem Bett gefunden — mit einer Kugel, Kaliber38, in seiner rechten Schläfe. Die Tatwaffe lag in der Nähe seiner rechten Hand. Die Polizei und der Untersuchungsrichter betrachten den Tod vorläufig als Selbstmord.“
Krivitskys Buch, In Stalins Secret Service, 1939 in den USA erschienen und ein Jahr später in deutscher Übersetzung im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange, stand auf der Suchliste vieler Stalinismusforscher. Nun ist es, ausführlich dokumentiert, unter dem Titel Ich war Stalins Agent wiederaufgelegt worden.
Es beansprucht unser doppeltes Interesse: Zum einen als Schilderung der Stalinschen Politik durch einen Experten des sowjetischen Geheimdienstes — auch nach einem halben Jahrhundert sind Krivitskys Analysen keineswegs überholt. Franz Borkenau schätzte ihn als „vertrauenswürdigen Zeugen“. Vor allem über das Verhältnis zwischen Hitler und Stalin hat Krivitsky Präziseres zu berichten als einige westliche Renegaten, die Stalin vom Schirmherrn des Antifaschismus in ein Genie des Bösen verwandeln. In seinem Spanien- Kapitel schildert der Autor die Geschichte der Sowjetintervention in Spanien unter dem Motto: „Die Welt glaubt noch immer, daß Stalins spanische Aktion irgendwie mit Weltrevolution zu tun gehabt habe. Aber das stimmt nicht. Die Weltrevolution hatte damals für Stalin schon lange aufgehört, ein echtes Ziel zu sein. Hier ging es allein um russische Außenpolitik.“ Krivitsky berichtet von Waffenlieferungen — einige der Waffen kamen sogar aus Nazi-Deutschland —, von der Verfrachtung des spanischen Goldschatzes nach Moskau, vom Aufbau der GPU in Spanien, vor allem in Katalonien, und der Überwachung der Freiwilligen, denen gleich bei der Ankunft die Pässe abgenommen wurden.
„Die erfolgreiche Verteidigung Madrids durch Sowjetwaffen gab der GPU aufs neue Gelegenheit, ihre Macht auszudehnen. Tausende wurden verhaftet, unter ihnen manche ausländische Freiwillige, die gekommen waren, um gegen Franco zu kämpfen. Jede Kritik an Methoden, jede abfällige Äußerung über Stalins Diktatur in Rußland, jedes Zusammensein mit Leuten, die eine ketzerische politische Meinung vertraten, wurde Verrat. Die GPU machte von allen ihren in Moskau so berühmt gewordenen Methoden Gebrauch, wenn sie Geständnisse erpreßte und Massenhinrichtungen vornahm.“
Zum anderen ist es Krivitskys Lebensgeschichte, die in Bann schlägt — und es ist kein Zufall, daß wir dazu mehr aus den Dokumenten und dem Nachwort von Hellmut G.Haasis erfahren als von ihm selbst. Krivitsky entfaltet das Tableau der Stalinschen Außenpolitik und läßt die eigene Rolle und die Beweggründe seines Handelns dabei im Hintergrund: Auch als Autor eines Renegatenberichts pflegt er jene Zurückhaltung, die ihn in seinem Beruf ausgezeichnet hatte.
Das Kunststück einer Analyse des Geheimdienstapparates und einer Ausklammerung der eigenen Rolle gelingt ihm, indem er den konterrevolutionären Terror der GPU zuschreibt, während jener Apparat, den er vertritt (der Militärische Nachrichtendienst) für ihn immer die revolutionären Ziele Lenins verfolgt hat. Die Scharfsichtigkeit, mit der er die Machterhaltungsstrategien der GPU und des späteren NKWD analysiert, kontrastiert die schweigsame Oberflächlichkeit, mit der er die Aktivitäten des Militärapparats beschreibt. So gelingt es ihm, sich in der Rolle des Revolutionärs und des Opfers zugleich zu beschreiben, während die Rolle des Täters, dessen terroristische Methoden die Revolution verraten, von Stalin und den Agenten der GPU verkörpert wird.
Krivitskys bürgerlicher Name war Samuel Ginsberg; geboren am 28.Juni 1899 im jüdischen Ghetto des west-ukrainischen Städtchens Podwolocyska. Mit dreizehn Jahren schloß er sich der russischen Arbeiterbewegung an, trat später der bolschewistischen Partei bei und wurde 1920 Mitglied der Roten Armee. Im Bürgerkrieg schickte man ihn hinter die Linien der Weißen Armee, wo er als Guerillakämpfer mit Sabotage, Nachrichtenbeschaffung und dem Aufbau des Widerstands befaßt war. Ginsberg galt als einer der besten. Nach Kriegsende besuchte er Generalstabskurse, wo er das Handwerkszeug des militärischen Nachrichtendienstes kennenlernte. Als er 1923 zur Vorbereitung der deutschen Revolution im Ruhrgebiet aktiv wurde, erhielt er den Decknamen Krivitsky.
Von Den Haag aus, wo sich Krivitsky, inzwischen zum Leiter des Militärischen Nachrichtendienstes aufgestiegen, als der österreichische Antiquar Dr.Martin Lessner niederließ, bereiste er ganz Europa und organisierte unter anderem Waffenkäufe für die spanische Republik. Stolz berichtet er, daß er sogar nationalsozialistische Lieferanten gehabt habe. Heute liest sich das anders: Canaris waren diese Aktionen bekannt, er beschaffte schadhaftes Kriegsmaterial, ließ es aufpolieren und verkaufte es an Krivitskys Waffenhandelsfirma.
In dieser Zeit begann aber auch Krivitskys innerer Kampf darum, wie er sich von Stalins mörderischer Politik trennen konnte. Noch immer zögerte er, bis sein engster Freund, der Sowjetagent Ignaz Reiß, am 17.Juli 1937 in einem offenen Brief an das ZK der KPdSU mit Stalin brach. Am 3.September war Reiß, der sich der trotzkistischen IV.Internationalen anschloß, tot: von Stalins Henkern in der Schweiz auf offener Straße erschossen. Am 7.Dezember schließlich bat Krivitsky in Paris öffentlich um politisches Asyl.
Später, in den Vereinigten Staaten, besorgte Isaac Don Levine, Stalin-Biograph und erfolgreicher Publizist, Krivitsky einen Auftrag für eine Artikelserie in der 'Saturday Evening Post‘. Sie bildete die Basis für seine Erinnerungen, an denen Don Levine mitarbeitete, und sicherte dem Autor und seiner Familie die Existenz. Er befolgte damit den Ratschlag, den Leo Trotzki nach der Ermordung von Ignaz Reiß gegeben hatte: „Die einzige wirkliche Sicherheit gegen Stalins gemietete Mörder bietet die volle Publizität. Noch am Tage des Bruchs hätte eine politische Erklärung an die Presse herausgehen müssen. Solch eine Erklärung würde sofort die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf ihn gelenkt und Stalins Henker gehindert haben.“
Daß Trotzkis Empfehlung keine sichere Gewähr gab, zeigt das eigene Schicksal und das von Krivitsky. Doch die Publikation der Erinnerungen in den USA wurde zu einem sensationellen Erfolg, dem Übersetzungen ins Französische, Italienische, Deutsche und Holländische folgten. Krivitsky prophezeite das bevorstehende Bündnis Stalins mit Hitler und sagte vor Regierungsstellen über sowjetische Agenten in den USA aus. Aufgrund dieser Aussagen wurden mehrere Agenten verhaftet; „seine Erfolge“, schreibt Hellmut Haasis, „alarmierten die Moskauer Zentrale.“ Haasis rekonstruiert, soweit das heute möglich ist, minuziös die Geschehnisse in Washington, wo Krivitsky im Februar 1941 stirbt, verfolgt die Routen der sowjetischen Agenten, die auf ihn angesetzt waren, und geht jener Selbstmordhypothese nach, an der anfangs nicht nur die KP-nahe Presse festhielt. Was Haasis zusammenträgt, liest sich wie eine Kriminalgeschichte, ein Attribut, das auch auf andere Renegatenberichte der Zeit paßt — etwa den von Richard Krebs alias Jan Valtin, der in den vierziger Jahren in den USA Millionenauflage erzielte: Out of the Night, ein Thriller, dessen Plot der Autor nicht erfunden hatte. Krivitskys Buch gehörte, neben dem von Krebs-Valtin und Koestlers Darkness at Noon (Sonnenfinsternis), zu den drei Publikationen, die in den USA die öffentliche Diskussion über die Stalinsche Politik prägten.
So unterschiedlich die Intentionen und Wege der Autoren waren, so deutlich blieben auch Parallelen: Krivitsky wie Krebs sprechen als Opfer. Der dritte Renegat, Arthur Koestler, hebt in einer Nachschrift zu seinem RomanSonnenfinsternis hervor, wie überraschend für ihn die Übereinstimmung zwischen seinen fiktiven Verhören und jenen Verhören in den Aufzeichnungen von Krivitsky waren. Auch beider Versuche, das Rätsel der Geständnisse in den Moskauer Schauprozessen zu lösen, stimmt so weit überein, daß Koestler von einem „übelkeitserregenden Gefühl von déja vu“ sprach, „als ich diesen Bericht mehrere Jahre nach der Arbeit an Sonnenfinsternis las [...], es war wie ein gespenstischer, ektoplastischer Durchbruch der Charaktere und Vorfälle meiner Phantasie durch die Realität.“
Über Krivitskys Ende schreibt Koestler: „General Krivitsky wurde mit einem scheinbar selbst beigebrachten Kopfschuß im Zimmer eines kleinen Washingtoner Hotels gefunden, in dem er nie vorher abgestiegen war. Er hatte seiner Familie und seinen Freunden wiederholt erklärt, sie sollten im Falle seines plötzlichen Ablebens unter keinen Umständen je an einen Selbstmord glauben. Es gibt einen alten GPU- Ausspruch: Jeder Dummkopf kann einen Mord ausführen, aber nur ein Künstler bringt einen natürlichen Tod zustande.“
Krivitsky war, wie sein Freund Paul Wohl berichtet, kein rücksichtsloser Fanatiker, kein Untergrund-Bandenführer, sondern ein sensibler, nervöser Intellektueller, der sich keinen Tag der Ruhe gönnte. Er wurde ein Opfer seines Glaubens an den revolutionären Kampf, als dessen Repräsentant er Stalin anerkannt und dessen tödlichen Doktrinen er sich unterworfen hatte. Im Kampf um eine Befreiung war er selbst zum Sklaven geworden.
Walter G.Krivitsky: Ich war Stalins Agent. Herausgegeben von Hellmut G. Haasis, Grafenau- Döffingen 1990, Trotzdem-Verlag, 34 DM (Titel der ersten deutschen Ausgabe bei Allert de Lange: Ich war in Stalins Dienst)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen