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Aufstand gegen die Tischordnung

Das undenkbare Denken, gesammelt  ■ von Mathias Bröckers

„Language is a virus from outer space“(William Burroughs)

„Ich denke sowieso mit dem Knie“ (Joseph Beuys)

Wäre die große Revolution in der DDR nicht unerwartet dazwischengekommen, das Erscheinen dieser Anthologie des Westberliner Merve Verlags im Leipziger Reclam Verlag hätte als kleine Kulturrevolution ganz groß herausgestellt werden müssen: Daß der versteinerte Marxismus-Leninismus das wilde Denken entdecken, der philosophische Stechschritt des „dialektischen Materialismus“ sich den Tanz der Vernunft ins Haus holen könnte, dies schien im Sommer letzten Jahres fast so unwahrscheinlich wie der Fall der Mauer. Das wilde Denken der Foucault, Deleuze, Baudrillard, Virilio et. al. hatte ja schon die linksliberalen Diskursingenieure in der BRD derart erschreckt, daß diese durchaus unterschiedlichen Autoren allesamt schnurstracks in den großen Irrationalismus-Topf wanderten: Abgestempelt als nicht weiter ernstzunehmende französische Modeerscheinung, deren „unschlüssiges Hin und Her zwischen Wissenschaftlichkeit und Ekstase“ (so Habermas über Derrida) einem ordentlichen „allgemeingültigen Vernunftmodell“ eher abträglich schien. Tatsächlich ist e i n e Gemeinsamkeit der zu Objekten der „Frankolatrie“ verquirlten Historiker, Philosophen, Soziologen und Psychiater, daß sie sich von Panzerkreuzern wie „Allgemeingültiges Vernunftmodell“ ebenso verabschieden wie von den philosophischen Schwerhaubitzen „Subjekt“, „Totalität“, „Dialektik“ usw. — und im Kampf um die Wahrheit nicht auf die Einheitsfront, sondern auf subversive Aktion und Guerillataktik setzen. „Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise“, so die Autoren des „Anti- Oedipus“ Deleuze/Guattari, „es gibt keinen Tod des Buchs, sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel, womit man experimentieren kann.“ Auch Michel Foucault, wiewohl einer der bedeutendsten Theoretiker der Nachkriegszeit, wollte durchaus nicht als solcher verstanden werden: „Ich bin ein Werkzeughändler, ein Rezeptaussteller, ein Richtungsanzeiger, ein Planzeichner, ein Waffenschmied ...“ Es war nicht die — verglichen mit den gabelstaplerfähigen Palettenlagern herkömmlicher Theoriegebäude geradezu labyrinthische — Unübersichtlichkeit dieser französischen Werkzeugkisten, welche die deutschen Diskursverwalter erschreckte, es war die Aussicht auf die Praxis: „Die königliche Hoheit des Subjekts (des einzigen und ewigen Ich) und der Repräsentation (des Durchblicks durch klare Ideen) wird untergraben“ (Foucault).

Diese Monarchie, die nichts geringeres regiert als das gesamte Projekt der Aufklärung, mit einer Textsammlung so zu unterminieren, „daß nach der Lektüre die Weiterführung eines autoritären Wahrheitsdiskurses zumindest erschwert erscheint“ — diese im Mai 1989 erklärte Absicht Stefan Richters, der mit Karlheinz Bark das DDR-Duo im Herausgeberquartett stellt, ist mit dem Ende der DDR nicht obsolet geworden. Daß sie mit dem Abschütteln des Stalinismus die Doktrin autoritärer Wahrheiten nicht losgeworden sind, begannen die Bürgerbewegungen der DDR gleich nach dem 9. November ebenso zu spüren wie die Tatsache, daß der plötzliche Zusammenbruch e i n e r Wahrheit nicht zur Verunsicherung und Reflexion über den Charakter von Wahrheit im allgemeinen, sondern zur Besetzung der nächstbesten führt. Und so könnte dieser Band unter dem klassisch aristotelischen Titel „Aisthesis“ (= Wahrnehmung) für die ehemalige DDR ein äußerst aktuelles Nachholbedürfnis befriedigen: die allgemeine, postmarxistische Verunsicherung.

Das Buch versammelt Texte meist französischer Autoren, die in den letzten 20 Jahren im Berliner Merve Verlag erstmals deutsch veröffentlicht worden sind. Es ist kein Almanach des aus der Studentenbewegung hervorgegangen Verlagsprojekts Merve und doch so etwas wie eine historische Dokumentation: Es dokumentiert den Pioniergeist der Merve- Macher Heidi Paris und Peter Gente, deren kleine Buchreihe, die noch „Internationale Marxistische Diskussion“ hieß, als sie längst post- marxistisch diskutierte, so etwas wie den Geburtskanal für neue Töne, Denkweisen, Wahrnehmungsformen darstellte. Die Schizo-Analyse von Gilles Deleuze und Felix Guattari, die Simulationstheorie Jean Baudrillards und Paul Virilios Theorie der Geschwindigkeit, die „Lebenskunst“ Michel Foucaults — sie alle erblickten erstmals in Gestalt kleiner Merve-Bände das Licht der deutschsprachigen Lesewelt. Unaufdringlich, ohne dröhnende Vorworterei und Schubladisierung, deutete das in Form von Essays, Fragmenten, Mikro-Diagnosen aufkommende „Neue Denken“ schon in den 70er Jahren an, was heute offensichtlich ist: daß mit Großtheorien und Totalentwürfen kein Hund mehr hinter dem Ofen der Wahrheit vorzulocken ist. Die Maxime der Kritischen Theorie, wie sie Adorno in der Negativen Dialektik aufstellte — eines Denkens, das gegen sich selbst denkt —, sie wurde nicht von seinen Frankfurter Schülern eingelöst, sondern jenseits des Rheins, in Paris und Nanterre. In Form eines Denkens, das die Vielheiten und Differenzen, die Zerrissenheit und Dezentrierung des Subjekts, das Provisorische und Fragmentarische, das Unstete und Fließende, Vermischte und Unreine kritisch affirmierte. Und teure Sicherheiten — d i e Ordnung, d i e Vernunft, usw. — vom Tisch wischte und auf der Heterogenität jeder Wahrheit bestand. Wogegen die Aufkläriker, um die Tischordnung wieder herzustellen, das Verdikt der „postmodernen Beliebigkeit“ verkündeten: auch wenn der Fraß längst ungenießbar — Messer und Gabel (die Kategorien) müssen sein.

Daß, wer das Messer erfindet, auch gleichzeitig die Stichwunde in die Welt setzt, gehört zu einem Denken „per Unfall“, wie es Paul Virilio in seiner „Ästhetik des Verschwindens“ anregt: „... Unterbrechungen, Unfälle und Dinge, die man abbricht, sind wichtig und produktiv.“ Von Virilio finden sich in diesem Band Auszüge aus seinen ersten, „schnellen“ Essays, die eine neue Dimension, ein politisches Raum-Zeit-Denken, eröffneten: Geschwindigkeit und Politik, zwei scheinbar völlig differente Bereiche, die nach dem von Virilio inszenierten Zusammenstoß fortan einfach nicht mehr getrennt gesehen werden können. Virilio ist Architekt und Urbanist, er versteht sich nicht als Philosoph, obwohl auf ihn Michel Serres' Definition allemal zutrifft: „Wenn ein Philosoph keinen neuen Kontinent entdeckt, ist er Historiker. Das ist sehr achtbar, er ist Erklärer von Texten oder er ist Logiker. Aber solange man keinen neuen Kontinent entdeckt, ist man kein Philosoph.“ Neben dem Reich der Geschwindigkeit sind in den über 40 Essays dieses Buchs zu viele Kontinente, Inseln, Wüsten und fraktale Küstenlinien zu entdecken — darunter Michel Foucaults Landschaften der „Heterotopien“, Baudrillards Realitätsprinzip der Simulation, Shuhei Hosokawas Rhetorik des Walkman, Walter Seitters Ökologie der Destruktion, Daniel Charles' psycho-musikalische Notationen des I-Ging und Roland Barthes' „Rauheit der Stimme“ — als daß sie hier im einzelnen Erwähnung finden könnten.

„Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektive auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung“, schrieb Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz — die in diesem Band versammelten Denk- und Sichtweisen zeichnen sich dadurch aus, daß sie diese Erkenntnis aufgreifen und nach Perspektiven einer durch Medien/Technologie veränderten Sinneswahrnehmung suchen. Eine Suchbewegung, der sich die meisten deutschen Theoretiker in der Vergangenheit verschlossen — diesmal durchaus in der Nachfolge Adornos, der den ersten Kunststoffteller noch mit einem entsetzten „Iih“ zurückwies, während Roland Barthes schon über Plastik meditierte. Diesem technikfeindlichen Biedermeier verdankte es sich, daß die Theorien eines Marshall McLuhan — Medien als Erweiterung des Körpers, der Sinne, des Bewußtseins — in den 50er und 60er Jahren als läppische Belletristik abgetan wurden und die deutsche Intelligenz medientheoretisch noch hinter das zurückfiel, was seit Nietzsche zu ihrem Basiswissen in Sachen Wahrnehmung/Medien/Erkenntnis gehören sollte (vgl. dazu Norbert Bolz: Theorie der neuen Medien, München 1990). Auf dem Umweg über „die Franzosen“ und hundert Jahre später kehrte in den Avantgarde-Bänden des Merve Verlags somit auch ein Stück abgekappte nationale (Nietzsche, Benjamin) und internationale Tradition (McLuhan) nach Deutschland zurück.

Wer in diesem wahrhaft multiplen Kompendium, gleich ob fraktal mit Virilio, konnektionistisch mit Deleuze oder ganz nach Lust und Laune gelesen, nicht mindestens ein Dutzend luzider Diagnosen, Einsichten, Aussichten findet, dem ist — in aestheticis — nicht zu helfen. Die Gefahr ist gering, und deshalb darf dieser Anthologie ein glänzender Absatz vorausgesagt werden. Dank des vom Vereinigungschaos möglich gemachten Sensationspreises von 7 Mark 50 liegt mit Aisthesis jetzt die Black&Decker für den philosophischen Heimwerker im Regal. Sie eignet sich vor allem für eine Art von dicken Brettern: die vor dem Kopf.

Karlheinz Bark, Peter Genthe, Heidi Paris, Stefan Richter (Hrsg): Aisthesis — Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam Verlag Leipzig, 480 Seiten, 7,50 DM

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