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KOMMENTARZwischen Abrüstung und Modernisierung

■ Das VKSE-Abkommen ist in Wien abgezeichnet worden

Über 50.000 Panzer, Artilleriegeschütze, Infanteriefahrzeuge, Kampfflugzeuge und -hubschrauber werden in den nächsten drei Jahren aus dem überrüsteten Europa verschwinden. Dies ist die Konsequenz des gestern in Paris unterzeichneten VKSE-Abkommens. Das ist zweifellos ein großer Fortschritt, auch wenn es sich dabei zunächst nur um 25 Prozent der derzeitigen Vorräte an diesen fünf Waffenkategorien handelt, von denen Ende 1993 in der Region zwischen Atlantik und Ural immer noch doppelt soviele lagern werden wie 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Doch durch das Abkommen wird immerhin ein jahrzehntelang geltendes Paradigma der Ost- West-Konfrontation beseitigt: eine numerische Überlegenheit der Streitkräfte der Sowjetunion und ihrer bisherigen Bündnisstaaten, die der NATO als Beleg für die Angriffsfähigkeit und -absicht des Warschauer Vertrages und damit für eigene Aufrüstung diente. Die Möglichkeit zu Überraschungsangriffen zwischen den 22 Vertragsstaaten wird auf nahezu null reduziert.

Doch alle Freude über dieses Abkommen sollte den Blick auf seine Begrenztheit und absichtlich gelassenen Lücken nicht verdecken. Lediglich in Europa führt es zur Verringerung militärischer Potentiale. In den Monaten vor seiner Unterzeichnung trug es jedoch zur Aufrüstung in der Dritten Welt bei: Vor allem Washington und Moskau haben große Mengen Waffen aus dem Vertragsgebiet abgezogen, um sie mit Gewinn zu verkaufen, anstatt sie kostenaufwendig zu verschrotten. Entscheidender aber ist: die Waffensysteme, die wegen ihrer flexiblen Einsatzmöglichkeiten für militärische Operationen außerhalb des europäischen Kontinents von zentraler Bedeutung sind, werden von dem Abkommen verschont: die Seestreitkräfte vollständig und die Luftwaffen, durch Festlegung sehr hoher Obergrenzen, weitgehend. Auch die in zahlreichen Ländern auf Hochtouren laufende „Modernisierung“ der in den fünf Kategorien verbleibenden Waffen schränkt der VKSE-Vertrag nicht ein. Damit wird die durch Reduzierung von Stückzahlen erreichte Verminderung militärischer Fähigkeiten z.T. wieder kompensiert.

Diese Tatsachen lassen die gerade auch in der Bundesrepublik weitverbreitete Behauptung fraglich erscheinen, das VKSE-Abkommen wie auch die im Zuge der deutschen Vereinigung beschlossene Reduzierung deutscher Streitkräfte auf 370.000 Soldaten seien Ausdruck einer Delegitimierung des Militärischen. Tatsächlich findet eher eine Anpassung militärischer Instrumente und Fähigkeiten an veränderte Rahmenbedingungen in Europa und an neu definierte globale Bedrohungen statt. Die aktuelle Golfkrise wird dabei kräftig zur Relegitimierung von Militär und Krieg als Mittel der Politik genutzt. Mit 370.000 Soldaten wird die Bundeswehr nach dem Rückzug der sowjetischen Streitkräfte und der Verringerung der Armeen anderer Staaten Mitte dieses Jahrzehnts die stärkste in Europa sein. Für künftige Globalaufgaben —sei es unter nationaler Verantwortung oder im Rahmen einer westeuropäischen Interventionsstreitmacht— sind 370.000 Soldaten weit mehr als genug. Auch der bundesdeutsche Rekordrüstungshaushalt 1990, der nach den bereits vorliegenden Eckdaten auch in den kommenden Jahren nicht signifikant sinken soll, ist eher ein Beleg dafür, daß der in Umfragen zur Zeit feststellbare Glaubwürdigkeitsverlust des Militärs noch keinen ausreichenden Druck auf politische Entscheidungsträger zu relevanten Abrüstungsschritten ausübt. Andreas Zumach

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