: ENN DIE WELT SO AUSSÄHE ...
Zwei verschlafene Dörfer in den
Pisaner Bergen: diskreter Charme
jenseits touristischer Reize.
VONHERMANNSCHLÖSSER
Calci und Castelmaggiore — zwei Ortschaften am Rande der Pisaner Berge. Kaum einmal verirrt sich ein Fremder hierher; es gibt wenig zu sehen. Das obligate Kriegerdenkmal auf dem quadratischen Hauptplatz Calcis, die Sparkasse, vor der ein einsamer Polizist Wache hält. Allerdings auch eine weitläufige barocke Kartause und eine romanische Pfarrkirche. In anderen Weltgegenden wäre das nicht wenig für eine so kleine Stadt. Hier aber, in der Toskana, nehmen nur wenige Reisende davon Notiz. Warum soll man sich mit Pfarrkirchen und Kartausen abgeben, wenn man 18 Kilometer weiter westlich, in Pisa, einen Dom mit original schiefem Turm betrachten und fotografieren kann?
Auf Reisen werden die Blicke wählerisch. Die Zeit, die zur Verfügung steht, ist knapp und die Sucht nach Sehenswürdigkeiten stark. Ob mit oder ohne Kamera, immer betrachtet der Tourist die Welt durch einen Sucher: Es gilt, das wirklich sehenswerte Motiv zu finden. Alles andere wird übersehen. Der Schiefe Turm oder die Stadtmauern von Lucca — das sind lohnende Ansichten. Damit verglichen — und der Reisende vergleicht immer — ist der Marktplatz von Calci nichts.
Noch weniger aber wäre Castelmaggiore. Ein verschlafenes Dorf, das sich an einer langen Straße schnurgerade den Berg hinaufzieht. Am unteren Ende ist eine Bar, wo sich am Abend die Jugend zum Flippern trifft, am oberen Ende eine, in der die Senioren Karten spielen. Aber nicht nur Getränke und Geselligkeit liefern die Wirte, sondern auch Propangasflaschen. Die benötigt man zum Kochen und im Winter zum Heizen. Gasleitungen gibt es keine.
Im Bach, der durchs Dorf fließt, waschen Frauen Wäsche. Oberhalb der Häuser, neben dem Friedhof, steht eine Telefonzelle. Sie ist die ganze Nacht lang beleuchtet. Sonst ist es dunkel. Jede Viertelstunde schlägt vom Kirchturm die Uhr. Sonst ist es still. Morgens krähen die Hähne. Tagsüber knattern Vespas, hupen Autos, und alle zwei Stunden hört man das Hornsignal des Busses, der aus Pisa heraufkommt, um acht Uhr abends zum letzten Mal. Dann ist es wieder still. In den Bars klappern und klingeln die Flipperautomaten, knallen die Spielkarten auf den Tisch.
Eindrücke aus Castelmaggiore, vielleicht interessant, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall aber nur zu bekommen, wenn man sich längere Zeit dort aufhält. Es ist nicht ausgeschlossen, daß manche Reisende daran sogar Gefallen fänden. In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich bei vielen sogenannten Alternativtouristen eine Lust am Unspektakulären, ein Bedürfnis nach Teilhabe am Leben fremder Menschen. Dies ließe sich natürlich auch hier befriedigen. Nach etwa vier Wochen Aufenthalt wüßte man manches zu erzählen: von der herrischen Signora Sacomani zum Beispiel, die als größte Hauseigentümerin des Dorfes fast alle Bewohner unter ihrer Fuchtel hält, obwohl sie die meiste Zeit in Rom wohnt und keiner sie richtig kennt. Oder vom Haus ganz weit oben am Berg, noch über den Friedhof hinaus, wo einmal zwei Deutsche wohnten, die sich so gut wie nie im Dorf haben blicken lassen, bis sie eines Tages spurlos verschwunden waren.
Aber dies und Ähnliches sind eben Geschichten und keine Bilder. Soviel man auch über die Dorfbewohner in Erfahrung bringen mag — die Augenlust, die sich auf Reisen überall, aber in Italien besonders ausleben will, kommt dabei nicht auf ihre Kosten. Die Häuser sind unauffällig, die Kirche bescheiden. Schön sind die Berge und die Olivenhaine ringsum. Sie aber findet man in der Toskana überall und andernorts womöglich schöner. Wollte man hier also Fotos machen, käme man über die immergleichen Schnappschüsse schwerlich hinaus: „Hier habe ich gewohnt, dort haben wir Brot und Wein gekauft, das ist der Wirt. Paolo hieß er, glaube ich, der hat uns immer die Bombolas gebracht, so heißen nämlich die Propangasflaschen...“ Und schon wären die Fotos wieder Anlaß zu Geschichten und weiter nichts.
Dennoch gibt es von Castelmaggiore eine sehenswerte Ansicht. Man findet sie freilich nicht in freier Natur, sondern auf dem Postkastenständer der Bar „La Torre“. Sie liegt nicht einmal im Ort, sondern in der größeren Nachbargemeinde Calci. Dort gibt es ein kleines Sortiment Ansichtskarten für den Fall, daß doch einmal ein Fremder vorbeikäme. Die meisten Karten haben noch die gezackten Ränder, die in touristenreicheren Regionen längst aus der Mode sind. Sie sind entweder schwarzweiß oder in jenem denaturierten Postkartenbunt, von dem schon Robert Musil meinte: „Wenn die Welt so aussähe, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzukleben und sie in den nächsten Kasten zu werfen.“
Nun sieht die Welt nie genauso aus, wie die Ansichtskarten sie zeigen. Das weiß jeder. Und doch kann fast kein Reisender auf allfällige Postkartengrüße verzichten. Die Freude, unterwegs zu sein, wäre nur halb so groß, würde sie nicht via Karte den Daheimgebliebenen mitgeteilt. Nicht immer muß dabei eine Sehenswürdigkeit verschickt werden. Gerade in den letzten Jahren kamen Postkarten in Umlauf, die die bereiste Welt nicht abbilden, sondern zu ihr mit aufwendigen Inszenierungen in Konkurrenz treten. Das Vorhandene wird aus ungewohnten Blickwinkeln heraus fotografiert, Weichzeichner verwischen die Kontraste, Teleobjektive verwirren die Distanzen. Aufs abgebildete Motiv kommt es dabei kaum noch an. Wichtig ist lediglich ein „Feeling“, das von der chicen Aufbereitung transportiert werden soll.
Von derartigen Finessen weiß man in Calci nichts. Die Karten, die in der Bar „La Torre“ zu kaufen sind, lichten möglichst gewissenhaft die berühmten Gebäude ab. Die Pfarrkirche aus der Nähe, damit man die schöne Fassade bemerkt, die Kartause von weitem, um ihre Größe ins rechte Licht zu rücken. Die älteste Karte aber zeigt Castelmaggiore. Noch kleiner und abgelegener als heutzutage. Die Ölmühle „Molino G. Meucci“ — mit lateinischem v — ist mittlerweile stillgelegt. Aber es ist nicht gesagt, daß sie auf der alten Karte noch in Betrieb wäre. Und selbst wenn — das Bild würde nichts davon zeigen. Betrieb und Leben sind ihm abhanden gekommen. Die Sonne scheint, soviel erfährt man immerhin. Das große Haus in der Mitte wirft einen eckigen Schatten, und der Himmel ist wolkenlos. Trotzdem ist er graubraun, müde und schwermütig wie alles andere.
Ursprünglich zeigte diese wohl einzige Ansichtskarte aus Castelmaggiore nur das getreue Abbild eines kleinen Dorfes. Aber sie alterte, und sie alterte schön. Sie gewann die melancholische Intensität, wie sie kein noch so ausgeklügeltes Feeling neuester Arrangements imitieren kann. Zum Vorschein kam nämlich die vergehende und doch im Bild zum Stillstand verdammte Zeit. An der Kreuzung der beiden Straßen stehen Leute. Einer hält vielleicht ein Fahrrad fest, aber das läßt sich von weitem nicht genau erkennen. Links daneben ein Fahrzeug. Kutsche oder Auto?
Dies bleibt so unklar wie das Entstehungsdatum der Karte. Sie könnte 30 oder 60 Jahre alt sein, der Unterschied wäre belanglos. Wie für die Ewigkeit stehen die Mutter und ihr Kind in langen Mänteln auf der Brücke, kehren dem Betrachter den Rücken zu und warten. Auf Reisen werden die Blicke wählerisch. Eine alte Postkarte bleibt — als wichtigste Sehenswürdigkeit von Castelmaggiore und Calci.
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