: Ein Schulabbrecher regiert in Downing Street
■ John Major, im ärmlichen Brixton geboren und Ziehkind der „Eisernen Lady“, ist Premierminister Großbritanniens PORTRAIT
London (taz) — Von Null auf Hundert in fünf Tagen: Bis zum vergangenen Donnerstag konnte es sich der britische Finanzminister John Major nicht leisten, seine politische Ziehmutter Margaret Thatcher öffentlich herauszufordern. Ihr Rücktritt — den er hinter den Kulissen heftigst mitbetrieb — machte den Weg frei. Mit 47 Jahren ist er der jüngste britische Premierminister in diesem Jahrhundert geworden.
1943 wurde er in Brixton geboren, einem Süd-Londoner Stadtteil mit hohem asiatischen und schwarzen Bevölkerungsanteil. Sein Vater war Trapezkünstler, seine Mutter wird von den Biographen nie erwähnt. Er verließ die Oberschule mit 16 Jahren ohne Abschluß, bezog Sozialhilfe und arbeitete auf dem Bau. Mit 18 schließlich bekam er eine Stelle bei der Standard Chartered Bank. Bald wurde er Pressesprecher der Bank und trat in die Politik ein.
1970 wurde er Wohnungsbausprecher der Konservativen in seiner Heimat Brixton. Dort galt er als „Linker“, weil er dafür sorgte, daß drei Stadträte seiner Bezirksgruppe wegen rassistischer Äußerungen aus der Partei entfernt wurden. „Ich habe viel in dieser Zeit über die Probleme und über Situationen gelernt, in denen Menschen sich in scheinbar auswegloser Lage befinden“, behauptete er später. Sein politischer Mentor aus dieser Zeit, Lord Barber: „Er war sehr enthusiastisch. Ich bin dafür verantwortlich, ihn ermutigt und ihm geholfen zu haben.“
Nicht nur Lord Barber stellt sich jetzt als Ziehvater dar. Der Erfolg hat viele Väter. Im zweiten Anlauf zog Major 1979 als Abgeordneter in das Unterhaus ein und schloß sich der linken „Blue Chip Group“ der Tories an, die Thatcher für ihre erbarmungslose Sozialpolitik heftig kritisierte. Der „Linke“ Tim Raison machte ihn zu seinem Privatsekretär. Raison über Major heute: „Er hatte immer ein Herz für die ärmeren Bevölkerungsschichten.“
Mit jedem Schritt nach oben vollzog Major jedoch auch einen Schritt nach rechts. 1987 wurde er Staatssekretär im Finanzministerium und machte den Kältezuschuß für RentnerInnen davon abhängig, daß die tägliche Durchschnittstemperatur mindestens eine Woche lang bei minus 1,5 Grad liegen mußte — im wetterunbeständigen England eine unerfüllbare Bedingung. Die Öffentlichkeit protestierte, Major durfte die eingesparten Subventionen wieder einführen. Nun stellen dies seine Anhänger als Beweis für sein „soziales Gewissen“ heraus. Die BBC war gestern noch bescheidener: Major sei als progressiv einzustufen, da er gegen die Todesstrafe eintrete — im Gegensatz zu seinem ondulierten politischen Über-Ich, das in Zukunft auf den Hinterbänken über ihm schweben wird.
Als Geoffrey Howe im Sommer 1989 aus dem Außenministerium abgeschoben wurde, übernahm Major dieses Amt, bis er im darauffolgenden Herbst nach Nigel Lawsons Rücktritt zum Finanzminister ernannt wurde — dort fühlt er sich wohler als auf ausländischem Parkett. Major stimmt mit der „Eisernen Lady“ in den entscheidenden politischen Fragen überein. Er tritt für den „harten ECU“, als Parallelwährung zu den nationalen Währungen, ein und ließ sich in der Frage der Kopfsteuer — die schließlich zu Thatchers Sturz geführt hatte — lediglich auf ein „Überdenken“ ein.
Majors Wahlhelfer, der Staatssekretär David Mellor, sagte gestern: „Er hat nie den Kontakt zu den Menschen verloren, mit denen er aufgewachsen ist. Er hat ein tiefes Verständnis für eine breite Schicht des britischen Volkes, und ich glaube, ein konservativer Führer muß in Berührung mit allen Teilen der Gemeinschaft sein.“ Verbindungsmann aller Klassen — Major ist der würdigste Nachfolger, den Thatcher sich wünschen konnte. Ralf Sotscheck
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