piwik no script img

»Fünf Holzbehälter«

■ Die Freie Universität nutzte die Not einer Frau aus, deren Fünflinge nach der Geburt gestorben waren/ Embryonen zu Forschungszwecken gebraucht

Berlin. Ganz kurz noch hat Angela W. die Schreie ihrer Kinder gehört. »Oh Gott, die leben ja alle!« meinte der Arzt erschrocken, dann brach Hektik aus im Kreißsaal des Krankenhauses Neukölln. Doch die Fünflinge — vier winzige Jungen und ein Mädchen — hatten keine Chance. Die ersten vier starben noch am Tag ihrer Geburt, das letzte Baby überlebte den Tag danach nicht mehr. Zu der »primären Lungenentfaltungsstörung« kam noch die Tatsache hinzu, daß auf der Station kein Brutkasten aufzutreiben war. Die Ärzte hatten an diesem 26. August 1987 nur mit Totgeburten gerechnet.

Frau W., die sieben Monate zuvor künstlich befruchtet wurde, hatte eine qualvolle Schwangerschaft durchlebt. Daß nicht nur eins, sondern gleich fünf Eier befruchtet wurden, übersah der Mediziner. Als die 25jährige zehn Tage nach der Befruchtung plötzlich in Ohnmacht viel, wurde klar, daß etwas nicht stimmte. Dann hieß es wieder, einige der befruchteten Eier würden von selbst absterben. Als der Geburtsarzt ihr dann sagte, daß keines ihrer Kinder überlebt hätte, brach sie in einen Weinkrampf aus. Eine halbe Stunde später klopfte eine Frau vom Sozialamt an die Tür.

Die brachte ein Formular mit, das Frau W. unterzeichnen sollte. Die Freie Universität werde sich um eine angemessene Beerdigung kümmern, sagte die Dame, vorher würden die Kinder untersucht. Angela W. las den Zettel nicht durch und unterschrieb. Ohne es zu wissen hatte sie gerade ihre Kinder zum Sezieren freigegeben und obendrein noch auf das Sterbegeld verzichtet. Die FU versprach eine »angemessene Beerdigung«.

Was die Wissenschaftler der Abteilung Placentologie der FU genau mit den kleinen Körpern anstellten, soll nicht beschrieben werden. Was von den Fünflingen übrigblieb, wurde im Herbst 87 in Holzkisten verpackt und danach zum Krematorium Wedding gebracht. Die Urnen wurden anonym auf dem Friedhof »Am Fließtal« in Tegel begraben. Angela W., die nur einer Erdbestattung zugestimmt hätte, wurde von Feuerbestattung und Beerdigung nicht informiert. Monate später meldete sich die FU dann doch noch mal: Die Abteilung Finanz- und Rechnungswesen stellt der Frau, die das furchtbare Geburtserlebnis noch immer nicht verarbeitet hatte, 3.455 Mark in Rechnung — unter anderem für fünf »Holzbehälter«.

Die längere Zeit krankgeschriebene Frau war zuvor von ihrer Krankenkasse darauf hingewiesen worden, daß ihr noch Sterbegeld zustünde. Sie holte sich also 5.097,50 Mark ab und kaufte dafür »allen möglichen Plunder«, wie ihr Freund beschreibt. »Mein Weib war völlig fertig!« erinnert sich der Berliner. Als sie dann alleine nach Mallorca flog, »obwohl die vorher nie allein in Urlaub gefahren ist«, kriselte es kräftig in der Ehe ohne Trauschein. Nach dem Urlaub hatte Angela W. dann wieder festen Boden unter den Füßen, versöhnte sich mit ihrem Freund und schien die Angelegenheit bewältigt zu haben. Bis der Brief der Finanzabteilung kam.

Frau W., inzwischen mit ihrem Freund verheiratet, weigerte sich zu bezahlen. Die FU klagte das Geld ein, bekam in der ersten Instanz auch recht, obwohl das Bezirksamt Neukölln das Verhalten der FU als »takt- und pietätlos« bezeichnet hatte. Tenor der Urteilsbegründung: Frau W. hätte sich das Formular eben durchlesen müssen. Sie habe sich bereichert, weil sie die Bestattungskosten gespart habe. Daß Frau W. die Ausbettung der Urnen veranlassen will, interessierte das Gericht nicht.

Das Landgericht am Tegeler Weg hat die Berufungsklage von Angela W. gestern zurückgewiesen. Sie muß nun zahlen. Warum die FU nicht die Größe hatte, einfach auf das Geld zu verzichten, konnte der Abteilungsleiter für Finanzen an der FU, Herr Menzel, gestern der taz nicht beantworten. Angela W., die vor sechs Wochen gesunde Zwillinge bekam, will endlich ihre Ruhe haben. Immerhin: Menzel, der von dem Fall bisher nichts wußte, will die Angelegenheit jetzt prüfen und herausfinden, welcher FU-Bürokrat seit anderthalb Jahren Geld von einer Frau verlangt, die wirklich schon genug gezahlt hat. Claus Christian Malzahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen