: In West-Berlin diktierte die Angst das Wahlverhalten
■ Von Diepgen erhofft sich die Mehrheit seiner Wähler Schutz vor dem drohenden Wohlstandsverlust und eine positive Entscheidung in der Hauptstadtfrage
Nicht nur für die leidgeprüften Liebhaber von Rot-Grün, nicht nur für die sehnsuchtsvollen Träumer einer mitteleuropäischen Metropole ist das Berliner Wahlergebnis ein Schock. Ganz abgesehen davon, daß auch die Journalisten, der Schreiber dieser Zeilen eingeschlossen, sich als Seismologen blamiert haben. Sie haben nicht recht wahrgenommen, was die Bevölkerung dieser Stadt umtreibt.
In Berlin ist nicht nur Rot-Grün abgewählt worden, sondern die Stadt hat auch dem Zehlendorfer Gewaltneurotiker Diepgen einen haarsträubenden Triumph beschert. Ein Westberliner Plebiszit für einen dünnblütigen Kandidaten, der sich nicht mal über den größten Sieg in seiner Karriere freuen kann! Es fragt sich, wie eine CDU derart gewinnen konnte, deren Wahlkampagne nicht mehr Zukunftsvision bot als der Wutausbruch eines Taxifahrers im Stau: nämlich weg mit dem Stau, mit der Kriminalität, mit Rot-Grün. Schockierend ist das Ergebnis insbesondere, wenn man beide Stadthälften betrachtet. Eindeutig hat der Westen gegen den Osten gewählt. Für den Westberliner gab es eine dramatische Alternative, im Osten nicht.
Statt der Mauer zieht sich offenbar eine gläserne Wand durch die Stadt. Das neue Abgeordentenhaus wird ein kongruent inverses Spiegelbild der Berliner Parteienlandschaft bieten: Die SPD-Fraktion wird aus zwei Dritteln Ossies bestehen, die CDU- Fraktion aus mehr als zwei Dritteln Wessies. Die Spaltung des geeinten Berlins hat durchgeschlagen. In West-Berlin hat es nachgerade eine Wählerflucht zur CDU gegeben. Alle Anzeichen deuten auf eine Angst- und Abwehrwahl hin. Gewiß, auch in besseren Zeiten hatte Rot-Grün nicht mehr als 25 Prozent hinter sich, aber SPD und AL schienen bis zum Schluß ihren Anteil mit Einbußen halten zu können. Wenn für beinahe die Hälfte der Westberliner ausgerechnet ein Diepgen zum Hoffnungsträger wird, dann ist es mit der Hoffnungslosigkeit wirklich ernst. Also geht es nicht um das politische Versagen von Rot-Grün, sondern um das Scheitern von Rot-Grün gegenüber der neuen Realität.
Dieses Jahr hat auch West-Berlin radikal verändert. Die Stadt liegt hautnah an der Armut des Ostens. Es ist enger, überfüllter, nerviger, aggressiver geworden. Die Stadtgesellschaft riecht anders, weil die Abstände der Wohlstandsgesellschaft erschüttert sind — vom Zusammenbruch des Innenstadtverkehrs ganz abgesehen. Eine rot-grüne Politik hätte da Klartext riskieren müssen und die Leute mit der Tatsache politisch vertraut machen, daß jene Zustände die Vorzeichen der neuen Metropole sind. Sie hätte klarmachen müssen, daß die Innenstadt überfüllt bleiben wird, statt von der Busspur zu reden. So sind die Massen zu Recht am rot-grünen Realitätsverlust wild geworden und wollten die eitle „Streitkultur“ mit den heiligen Dauerthemen vom Uni-Reaktor (HMI) über die Grüntangente bis zum Streit um den Potsdamer Platz schlicht loswerden. Der rot-grüne Vorgarten des „ökologischen Stadtumbaus“ war eben keine aussichtsreiche Bastion gegen die drohende „Verostung“ der Stadt. Das politisch untergegangene West-Berlin hat sich um die CDU geschart und an der neuen Realität gerächt.
Wofür steht Diepgen? Für ein saturiertes Zehlendorf, einem fast westdeutschen Wohlstandsbezirk; für eine ordentliche klientelare Beziehung zum Bonner Finanzministerium. Diepgen ist der erste Lobbyist für West-Berlin, das auf die ökonomischen Impulse des Regierungssitzes hofft und eine präzise Ahnung vom drohenden und chronischen Defizit der öffentlichen Hand hat. Von Diepgen wird erwartet, daß er Westberliner Lebensverhältnisse nicht für Ost-Berlin opfert. Er ist die personifizierte Traumbotschaft von Stabilität und auch von Ruhe und Ordnung — angesichts einer unvorstellbaren Ungleichheit, angesichts der Tatsache, daß Arbeitslosigkeit, Verzweiflung, Wohnungsnot und schlechtere Lebensverhältnisse in der Stadt ohne Mauer eine Frage des Straßennamens ist.
Da die Westberliner die große Koalition wählten, mußte vor allem die SPD verlieren. Aber auch die AL hat verloren, nicht so stark, aber nach allen Richtungen. Die AL konnte in dem Jahr der Einheit sich weder fürs Linkssektiererische, noch für die neue Realität, noch für die Bürgerrechtsbewegungen der DDR entscheiden: Folgerichtig hat sie an die PDS, ans Wahlbündnis 90 und an die Nicht-Wähler verloren. Dennoch ist das Ergebnis, das zunächst eine große Koalition nahelegt, nicht so erschütternd. Nach der Zusammensetzung des neuen Parlaments wäre neben anderen Rechenexempeln auch eine Ampelkoalition möglich. Nur, die SPD wird sich durch diese Niederlage so demoralisieren lassen, daß sie lieber am Schatten von Diepgen kleben wird, als frech mit unerwarteten Möglichkeiten zu spielen. Und auch die AL wird eher nach neuen Prinzipien suchen, als mit einer erstarkten FDP in Beziehung zu treten.
Nichts deutete bislang darauf hin, daß nur eine Partei eine Idee über die zukünftige Stadt haben wird, die es rechtfertigen könnte, die Mehrheitsfindung nicht zu einer bloß praktischen Frage zu machen. So wird über einer angstvollen Bevölkerung eine Stimmungsmehrheit herrschen. Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen