Die Grünen (West) sind die großen Verlierer der ersten Bundestagswahl im neuen Deutschland: Unter die deutsch-deutschen Räder
■ Während die West-Grünen ihre Wunden lecken, sehen sich die Ost-Grünen plötzlich mit der Aufgabe konfrontiert, alles alleine machen zu müssen
Auch am Tage nach dem Wahldebakel war das lähmende Entsetzen bei den Grünen noch nicht gewichen. Hinter den wortreichen Erklärungen zu den Ursachen der Niederlage und der Frage, wie die Partei nach dem Sturz unter die 5-Prozent-Hürde überleben kann, war allenthalben Sprachlosigkeit und Lähmung zu spüren. Gerechnet hatte mit dem Scheitern keine Strömung; auch Bundesgeschäftsführer Eberhard Walde nicht, dessen Befürchtung, die formal nicht vollzogene Vereinigung mit den DDR-Grünen könnte sich als Fehler erweisen, auf fatale Weise bestätigt wurde.
Die Konsequenzen der Niederlage sind weitreichend. Die Bundestagsfraktion wird bis Ende Dezember sämtliche 266 MitarbeiterInnen entlassen müssen. Damit geht neben dem in acht Jahren erworbenen Wissen auch eine wichtige Infrastruktur für soziale und ökologische Bewegungen im gesamten Bundesgebiet verloren. Zugleich wird die personell hervorragend ausgestattete Bundestagsfraktion nicht mehr als unentgeltlicher Braintrust der Partei zuarbeiten können. Bedroht sind auch die Grünen-Stiftungen, die sich zum Teil aus den Abgaben der Parlamentarier speisen. Die sieben neuen Abgeordneten aus der Ex-DDR werden dagegen wegen des fehlenden Fraktionsstatus weder über finanzielle Mittel noch über Ausschußsitze und Rederechte verfügen.
Die gegenseitigen Schuldzuweisungen der Strömungen für das Debakel ließen nicht auf sich warten. Einen Rücktritt des Bundesvorstandes, von Sprecher Hans-Christian Ströbele in der Wahlnacht nicht ausgeschlossen, gibt es nicht. Vielmehr sollen gemeinsam mit den Landesvorständen und dem Bundeshauptausschuß „Vorschläge für einen Erneuerungsprozeß“ erarbeitet werden; eine Neuwahl des Führungsgremiums wird es möglicherweise auf einem vorgezogenen Bundesparteitag im Frühjahr geben. Ströbele machte „Irritationen über Identität und Glaubwürdigkeit“ der Grünen für die Niederlage verantwortlich und bezog dies auf die Übertritte grüner Funktionäre zur PDS und die Debatte über die Weltmachtrolle Deutschlands am Golf. Auch thematisch seien die Grünen mit der Betonung der Klimaproblematik und sozialen Fragen „unter die deutsch- deutschen Räder gekommen“. Deswegen trägt nach Ströbeles Meinung der Bundesvorstand Mitverantwortung für den „schmerzhaften Denkzettel“. Ströbele sprach sich für Reformen der Partei aus; einige „liebgewonnene Prinzipien“ seien „überholt“. Notwendig sei eine stärkere Hervorhebung von Personen bei der Darstellung grüner Politik, eine Verkleinerung des Bundesvorstands und eine Abkehr der basisorientierten Entscheidungsstrukturen.
Derweil zeichnen sich nach der bemühten Friedfertigkeit der letzten Monate erneut Flügelauseinandersetzungen ab. Daß die Niederlage möglicherweise gerade die Quittung für das Strömungshickhack der letzten Jahre darstellt, wird nirgendwo problematisiert. Die Radikal-Ökologin Jutta Ditfurth machte für die Niederlage den Verlust eines „scharfen linken und ökologischen Profils“ verantwortlich. Weil die Grünen für außerparlamentarische Bewegungen kein „Bündnispartner“ mehr seien und auch die PDS keine linke Alternative, seien diese Wähler erst gar nicht zur Wahlurne gegangen. Auch Ludger Volmer vom „Linken Forum“ verficht, die Grünen hätten die linke Stammwählerschaft „vergrault“ und es zugleich nicht geschafft Wechselwähler anzuziehen.
Von realpolitischen Vertretern wird die Nichtwähler-These verworfen. Es sei vielmehr eine „falsche Strategie“ gewesen, „auf links zu setzen“, vertritt Bernd Ulrich, einer der Sprecher des „Aufbruchs“. Wie die Bundesvorstandssprecherin Heide Rühle macht Ulrich außerdem „Ermüdungserscheinungen“ und „Langeweile“ in der Partei für die Niederlage verantwortlich. „Unsere Wähler sind genauso müde wie die Partei“, erklärte Ulrich. Ohne radikale Veränderungen seien die Grünen am Ende, glaubt der hessische Realo Hubert Kleinert. In Hessen stehen im Januar Landtagswahlen an. In Kreisen der Realos wird darauf verwiesen, daß die Partei 200.000 Erststimmen mehr erhalten habe als Zweitstimmen. Dies sei ein Votum für die konkrete Arbeit an der Basis, aber gegen den mehrheitlich linken Bundesvorstand, hieß es.
Die Linken hingegen sehen die Zukunftsperspektive für eine Genesung der Partei in der Formel „nicht befrieden, sondern polarisieren“. Die Partei müsse hinarbeiten auf die Organisation einer gesamtdeutschen außerparlamentarischen Opposition, um so ihre Existenzberechtigung zu beweisen. Gerd Nowakowski, Bonn
Enttäuschung beim Bündnis 90
Nur einer bedankte sich bei den WählerInnen, als die neuen Bundestagsabgeordneten vom Bündnis 90/Grüne gestern zu einer Pressekonferenz ins Ostberliner Haus der Demokratie einluden: Wolfgang Ullmann. Er dankte für „den Mut, den es offenkundig erfordert, eine kleine und nur kurze Zeit bewährte Gruppe zu wählen“. Bei einer Wahl in einer Phase starker Verunsicherung, so der ehemalige Volkskammerabgeordnete, sei es verständlich, wenn eine so große Mehrheit konservativ wählt — „da müssen wir auch die hohen Ziffern für die PDS einschließen.“
Für die acht Aufrechten, die im neuen Parlament nun alleine das grün-bunte Fähnlein hissen müssen, war das Wahlergebnis denn auch eher Anlaß zur Enttäuschung zur Freude. Ihre erste Aufgabe wird nun der Kampf um den Fraktionsstatus sein. Doch was macht das Häuflein der Aufrechten, wenn es nur einen Gruppenstatus zugestanden bekommt? Würde es etwa ein schon einmal unterbreitetes Angebot der SPD annehmen, als eigenständige Gruppe in der SPD-Fraktion mitzuarbeiten? Ullmann betonte, daß es zuerst darum gehen müsse, den Fraktionsstatus durchzusetzen. Ansonsten müsse man aber über solche Fragen nachdenken: „Wir wollen ja handlungsfähig werden.“
Neben Ullmann und Konrad Weiss von Demokratie Jetzt werden auch Werner Schulz und Ingrid Köppe vom Neuen Forum, Christina Schenk vom Unabhängigen Frauenverband und vielleicht auch Gerd Poppe aus Berlin für die Initiative für Frieden und Menschenrechte in den Bundestag einziehen. Die gesamtdeutschen Grünen werden von Vera Wollenberger und Klaus Feige vertreten, denn seit Sonntag nacht 24 Uhr sind — mit Ausnahme Sachsens — die Landesverbände der ehemaligen DDR Teil der Bundesgrünen. Bis die Fusion mit einem gemeinsamen Programm und einem Parteitag auch inhaltlich vollzogen ist, kann noch einiges Wasser den Bach runterfließen. Vera Wollenberger beispielsweise unterstützt Überlegungen, zunächst einmal in den fünf neuen Ländern ein grünes Bürgerforum aus allen Bürgerbewegungen und den Ost-Grünen ins Leben zu rufen. Solche Vorstellungen gebe es nicht nur in Sachsen, sondern auch an der grünen Basis in Thüringen. Zu einem späteren Zeitpunkt könne das Bürgerforum dann den West-Grünen beitreten, als eine relativ selbständige Formation, ähnlich wie die Alternative Liste in Berlin. Beate Seel, Berlin
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