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Vorschlag für eine Resozialisierung der Sozialpolitik

■ Lebenssinn statt Gotteslohn?/ Ulf Finks Suche nach einer „neuen Kultur des Helfens“/ Eine weitere Professionalisierung sei nicht finanzierbar/ Die deutsche Vereinigung wirkt sich noch problemverschärfend aus/ Wie beiläufig wird die Idee einer „Bürgerpflicht“ in die Diskussion gebracht

Seit etwa 20 Jahren kennen wir den facettenreich ausgebauten Pflegenotstand als ein ungewöhnlich stabiles und zukunftsträchtiges politisches Thema. Die Aussicht auf einen fernen Gottes- und niedrigen Tariflohn bilden keine hinreichenden Anreize für soziales Engagement.

Weiter so? Nur blumigere Worte fürs Ehrenamt und etwas mehr Geld für die Profis? Mitnichten, meint Ulf Fink. Weder Ab- noch Ausbau, sondern Umbau des Sozialstaates sei die Losung des ausgehenden Jahrhunderts. Fink als pragmatischer und ambitionierter Sozialpolitiker mit „langen Denk- und Zeithorizonten“?

Der Amtsinhaber Fink könnte schon heute als erfolgreich gelten: Stellvertretender DGB-Vorsitzender, Bundesvorstandsmitglied der CDU, Vorsitzender der CDA-Sozialausschüsse und Ex-Gesundheits- und Sozialsenator von West-Berlin. Als Politiker gehört er innerhalb der CDU nur zur „lauten“ Reserve, seitdem seine Gruppe der (sozial-)politischen Modernisierer um Süssmuth, Geißler, Dettling und Schönborm am Rande des Geschehens plaziert wurde. Nach Keine Angst vor Alternativen (1983) und Der neue Generationenvertrag (1988) bildet Die neue Kultur des Helfens den gesellschaftspolitischen Beitrag in der Trilogie Soziales Engagement und Soziale Dienste.

Nach der Losung: „Nicht immer mehr vom Gleichen“

Die Deutung des Sozialstaates als Umbauprojekt und die Inszenierung einer „neuen Kultur des Helfens“ stehen im Mittelpunkt seines Wohlfahrtsmodells. Fink wendet sich mit der Losung „Nicht immer mehr vom Gleichen“ gegen eine einfache Fortschreibung des bisherigen Modells einer flächendeckenden Standardversorgung für Anspruchsberechtigte.Die Bedingungen für ein schlichtes Weiterwursteln werden in der Tat schlechter: Eine Zunahme des hilfe- und pflegebedürftigen Bevölkerungsanteils, eine Differenzierung und Individualisierung sozialer Bedarfslagen sowie abnehmende familiale Versorgungskapazitäten untermauern sein Plädoyer für die Notwendigkeit eines qualitativen Umbaus des Sozialstaats.

Sein Konzept setzt dabei auf eine „Resozialisierung“ der Sozialpolitik: Selbsthilfegruppen, Privathaushalte und sozial engagierte Einzelpersonen sollen in ihrer Bedeutung als Hauptträger von Sozialleistungen öffentlich anerkannt und gefördert werden. Finks KritikerInnen sehen darin weniger eine Vergesellschaftung, als eine Privatisierung öffentlicher Sozialleistungen, insbesondere zu Lasten der bisherigen Hauptpflegepersonen: den Frauen.

Sinnsuche und Zeitgewinn

Dem gesellschaftspolitischen Stellenwert einer „neuen Kultur des Helfens“ ist Fink in den Politikbereichen „Technik und Modernisierung“, „Ökologische Frage und Umwelt“ und „Arbeit und Beschäftigung“ auf der Spur. Die Erörtung technologischer und ökologischer Themen ist schlicht gehalten und folgt dem Muster „sowohl als auch“. Technolgische Entwicklungen hätten zwar auch solch gefährliche Aspekte wie die Kerntechnologie, die aber, soviel sei zumindest gewiß, im Evolutionsprozeß (der CDU?) aussortiert werden würden.

Die wichtigsten Folgen technologischer Innovationen seien hingegen ein Gewinn an freiverfügbarer Zeit und die reduzierte Bedeutung von beruflicher Arbeit als Quelle von Lebenssinn. In der Sinnsuche und dem Zeitgewinn sieht Fink potentielle Ressourcen und Anknüpfungspunkte für seine Anstiftung zu sozialem Engagement.

In der Erörterung ökologischer Themen versucht Fink den Anschluß an die „westdeutsche Frage“ zu finden: Ökologie bedürfe einer politischen Priorität, da Umweltbelastungen auch zu gesundheitlichen Belastungen beitrügen, die wiederum kostspielige soziale Folgeprobleme erzeugen würden. Dabei weist er auf die Paradoxie hin, daß Umfragen zufolge alle bekennende Ökologen sein müßten, dem aber die schwache Bereitschaft zu Engagement widerspräche. Konsequenzen für eine erfolgreiche Strategie zur Förderung sozialen Engagements werden hieraus aber nicht gezogen.

Ideenreicher und sachlich fundierter sind die Teile des Buches, in denen die sozialpolitische Dimension entfaltet wird. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die negative gesellschaftliche Bewertung sozialer Tätigkeiten im Vergleich zur Erwerbsarbeit. Die infolge der abnehmenden Erwerbsarbeitszeit freiwerdende Zeit sollte seines Erachtens als „Sozialzeit“ kollektiv nutzbar gemacht werden. Wie aber ist dem begründeterweise schlechten Image, das sozialen Tätigkeiten anhaftet, beizukommen? Fink weist zunächst auf zwei Möglichkeiten hin: Professionelle soziale Dienste und freiwilliges soziales Engagement.

Einen großzügigen Ausbau professioneller Dienste hält er für nicht finanzierbar. Eine Behauptung, die aufgrund der „leichten“ Finanzierbarkeit der deutschen Vereinigung zumindest begründungspflichtig geworden ist. Die zweite Möglichkeit zur Deckung der Versorgungslücke, das heißt freiwilliges soziales Engagement, wird ausführlich diskutiert und positiv bewertet. Fink weist auf die Grenzen eines derartigen Engagements hin: Es sei nicht dauerhaft, erweise sich in schwierigen Fällen als unzureichend und gehe überwiegend auf die Kosten von Frauen.

Als Vorteile nennt er Sinnfindungs- und Erfahrungsmöglichkeiten für die Beteiligten, aber auch die Chance zum Erwerb von geringen Rentenbeiträgen und Einkommen sowie der Erstattung von Unkosten. Diese neuartigen Ansätze einer sozialen Zusatzsicherung für freiwillig tätige Pflegepersonen werden von Fink nicht nur als Einstieg in eine soziale Absicherung des Pflegefallrisikos diskutiert, sondern wurden während seiner Berliner Amtzeit auch politisch umgesetzt.

Auch wenn die finanzielle Höhe derartiger Anreize weiterhin steigt, so tragen sie höchstens zur Entlastung bestehender Pflegebeziehungen bei, ohne daß sie ein zusätzliches Potential freiwilligen sozialen Engagements erschließen. Spätestens an dieser Stelle ist der „umgebaute“ Sozialstaat gefragt: Für Fink steht nicht die Expansion staatlicher sozialer Einrichtungen im Vordergrund, sondern eine staatlich geförderte Infrastruktur zur Vermittlung von Hilfsbereiten und Hilfebedürftigen. Management und Kommunikation als qualitativ neue Sozialstaatsfunktionen?

Die von Fink mitinitiierten und staatlich geförderten „Marketingversuche“ zur Werbung und Vermittlung Freiwilliger, geben immerhin Anlaß zur Skepsis bezüglich ihrer Mobilisierungserfolge.Aber selbst eine gut inszenierte und mit finanziellen Anreizen versehene „Kultur des Helfens“ kann in einer von rationalen Kalkülen geprägten Gesellschaft keine große Bedeutung erlangen. Die staatliche Vereinigung wirkt sich zudem problemverschärfend aus, da das Entwicklungsniveau von sozialen Diensten und freiwilligem sozialem Engagement in den neuen Bundesländern vergleichsweise niedrig ist. Auch Fink scheint zu einer skeptischen Einschätzung zu kommen, wenn er die Idee einer „Bürgerpflicht“ zum sozialen Dienst beiläufig einführt und am Beispiel des „freiwilligen sozialen Jahres“ für junge Frauen lobt; gleichzeitig weist er in der 'Faz‘ (12.11. 1990) auf die Möglichkeit eines sozialen Pflichtdienstes für Männer anstelle des Kriegsdienstes hin. Moderne Sozialpolitik ist zu allererst Deutungspolitik, — mit mehreren offenen Enden. Holger Backhaus-Maul

Ulf Fink, Die neue Kultur des Helfens·Nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaates, München 1990, 200 Seiten, 29,80 DM.

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