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■ NOCH 3311 TAGE BIS ZUM JAHR 2000Spaß mit Erdbeben

Ein australischer Fernsehzuschauer hatte in einem Leserbrief an die 'Japan Times‘ geschrieben, er habe ein Interview mit einem amerikanischen Wissenschaftler gesehen, der behauptet hatte, ein schweres Erdbeben würde am 2. oder 3. Dezember das Gebiet um Tokio erschüttern. Diese dubiose Prognose löste in Tokio eine mittelschwere Panik aus. Die 'Japan Times‘ wurde mit Anfragen überschüttet und veröffentlichte schließlich eine klärende Stellungnahme der Redaktion. Sie war allerdings so vorsichtig formuliert, daß sie bei vielen Lesern die Unruhe noch verstärkte. Kein Journalist und kein Wissenschaftler will sich schließlich vorwerfen lassen, er habe die Möglichkeit eines Bebens bestritten, wenn es dann doch kommt. Nun, es kam nicht. Tokio beruhigte sich wieder.

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten geht man mit Katastrophenmeldungen viel professioneller um. In den USA schlägt man aus solchen Nachrichten Kapital. In der vergangenen Woche war auch für die Kleinstadt New Madrid in Missouri ein Erdbeben vorausgesagt worden. Viele Einheimische ergriffen die Flucht, die Schulen wurden geschlossen, die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt, und besorgte Bürger schlossen Erdbebenversicherungen ab. Trotzdem herrschte in New Madrid eine Stimmung wie in einer Disko am Samstagabend. Tausende von sensationshungrigen Touristen fielen über die Stadt her, Scharen von Journalisten veranstalteten einen Riesenmedienrummel. Alle wollten die Katastrophe live miterleben. In den Straßen der einst verschlafenen Kleinstadt ließen sie richtig die Sau raus. Ein angereister Prediger in seinem Lautsprecherwagen versicherte zwar, Christus sei mehr zu fürchten als die bebende Erde, aber die Erdbebenfans ließen sich den Spaß nicht verderben. In „Hap's Tavern“ begann schon am Montag um sechs Uhr früh eine ganztägige „Shake, Rattle and Rock'n'Roll-Party“, eine andere Kneipe bot einen „Earthquake Special“-Drink an, und ein Restaurant servierte „Quake Burgers“. Die Einzelhändler machten das Geschäft ihres Lebens. Sie verkauften tonnenweise Verbandskästen, Taschenlampen, Batterien, Radios, Schlafsäcke, Decken, Zelte und Mineralwasser.

Als das Erdbeben dann doch nicht kam, wurde auch diese Tatsache noch gewinnbringend vermarktet. In New Madrid gibt es inzwischen T-Shirts mit der Aufschrift: „Das größte Erdbeben, das nie stattgefunden hat“ zu kaufen. Karl Wegmann

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