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„Die ,Kuppel‘ gibt's gar nicht...“

Das gewohnte Lied im Mafia-Revisionsprozeß: Halbierung der Strafen, Freigang der Bosse/ Mord an dalla Chiesa ungesühnt  ■ Aus Palermo Werner Raith

Kurz vor Weihnachten 1987 hatten sich noch mehr als 300 in- und 200 ausländische Journalisten eingefunden, als der Gerichtshof von Palermo zusammentrat, um die Urteile im ersten „Maxiprozeß“ gegen 463 Angeklagte zu verkünden. Endlich ein Schlag gegen die Mafia! So titelten — nach dem wahren Regen von lebenslänglichen und langjährigen Gefängnisstrafen — weitgehend unisono 'La Repubblica‘ und die 'Times‘, 'La Stampa‘ und 'Le Monde‘.

Als am Montag abend jedoch das Revisionsurteil verkündet wurde, waren nicht einmal zwei Dutzend Schreiberlinge präsent. Das Interesse des In- wie Auslandes am Mafiaprozeß ist erloschen. Dabei müßte dieses Urteil weit mehr Aufmerksamkeit erwecken als das erste. Wieder einmal hat es jahrelange Arbeit und Dutzende von Todesopfern unter den Ermittlern zur Makulatur erklärt. Von den in erster Instanz verhängten 22 lebenslänglichen Strafen blieben gerade elf übrig, von mehr als 2.500 Jahren für gut 300 weitere Angeklagte knappe tausend. Freigesprochen wurden der Oberboß Luciano Liggio aus Corleone und sein Statthalter Provenzano, freigesprochen wurden alle Killer und Handlanger, die des Mordes am Präfekten Carlo Alberto dalla Chiesa, seiner Frau und seinem Begleitpolizisten beschuldigt wurden. Zwar wurde das Lebenslänglich für den Chef der Bande aus Ciaculli, Michele Greco, bestätigt. Doch der nun angerufene — seit jeher nicht sonderlich mafiaunfreundliche — Kassationsgerichtshof wird dieses Urteil nun wohl auch bald aufheben. Bosse verurteilt man nicht, allenfalls Handlanger. „Wie sollen wir überhaupt noch weitermachen“, so der leitende Staatsanwalt Aliquo, „wenn die mit einem Federstrich alles wegwischen, was mittlerweile auch international belegt ist?“ Die Vertreter der Nebenkläger, etwa der Familie dalla Chiesa, sehen sich in ihrer schon früher geäußerten Angst vor „einem Rollback in Sachen Mafia“ bestätigt.

Kernpunkt der Revision war die Demontage der sogenannten „Buscetta-These: Der seit 1984 geständige Ex-Boß Buscetta hatte gemeinsam mit anderen aussagewilligen Mafiosi der mittleren Ebene erklärt, daß alle großen, die Grenzen Palermos oder gar der Insel überschreitenden Delikte der Mafia kollektiv in der sogenannten „Kuppel“ beschlossen werden. Dazu gehört der internationale Drogengroßhandel ebenso wie Waffenschieberei und die „Todesurteile“ gegen hohe Politiker oder Ermittler und gegen Bosse anderer Clans. Laut Buscetta besteht die „Kuppel“ aus den Oberhäuptern der größten Mafiafamilien einer Provinz. Damit wäre nach dem Antimafiagesetz eine kollektive Verantwortung aller Mitglieder dieses obersten Organs gegeben. So hatte denn auch die erste Instanz entschieden.

Doch das Revisionsgericht befand, der Kronzeuge Buscetta wolle sich nur via Gericht an seinen Feinden rächen (tatsächlich haben die „aufsteigenden“ Clans von Corleone und Palermo mehr als ein Dutzend seiner Verwandten erschossen) und sei daher unglaubwürdig.

Seine Aussagen standen jedoch nicht alleine; sie wurden von anderen Aussteigern in Sizilien und auch von entsprechenden Gruppen in den USA bestätigt. Erhärtet wurden sie auch durch zahlreiche mittlerweile aufgefundene Dokumente. So konnten die palermitanischen Fahnder um Oberstaatsanwalt Falcone den am Telefon benutzten Geheimcode knacken, fanden Carabinieri und Polizisten in Verstecken Abrechnungen von Schutzgeldeinnahmen und Killerprämien, sind in der Schweiz die von Bossen eingerichteten Konten entdeckt worden, kamen aus den USA präzise Daten über Connections und deren Strukturen. Nichts zu machen: der Gerichtshof sah die Existenz der „Cupola“ als nicht bewiesen an und sprach daher alle mutmaßlichen Mitglieder frei. Nur wem konkret eine Tat nachgewiesen werden konnte, erhielt eine Gefängnisstrafe. Auftraggeber und Hintermänner der allgemeinen Mordserien gehen nun prinzipiell straffrei aus. Für die Situation der Bosse und ihrer Gefolgsleute, für die gedungenen Killer und Mitläufer ändert sich durch den Spruch kaum etwas: bis auf ein gutes Dutzend sind sowieso schon alle auf freiem Fuß. Die Strafrechtsreform von 1989 hat die Höchstdauer der Untersuchungshaft so drastisch reduziert, daß nahezu alle Bosse wegen Überschreitens der Maximalgrenze bereits wieder freigelassen werden mußten. Zu Zeiten der Hatz auf die „Roten Brigaden“ war die Höchstdauer ohne viel Umstände auf elf Jahre hinaufgesetzt worden, obwohl die Zahl der Morde durch den Terrorismus insgesamt nicht ein Viertel der jährlichen Morde von Mafia und Camorra erreicht hatte.

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