Die Kunst der Verzögerung

■ Alan J. Pakulas „Aus Mangel an Beweisen“

Der kommerzielle Erfolg von Aus Mangel an Beweisen zählte zu den wenigen großen Überraschungen des diesjährigen flauen US-Kinosommers: das Publikum strömte in Massen in einen Film, der sich schwerlich unter die gängigen Kategorien der Popcorn- und Comicstrip-Filme subsumieren läßt. Alan J. Pakulas (auch künstlerisches) Comeback folgt zwar bewährten Kinokonventionen (es ist ein Gerichtsfilm), keineswegs jedoch aktuellen Moden (im moralinsauren Fahrwasser von Fatal Attaction und anderen Filmen, in denen sich eine idealisierte Kernfamilie gegen erotische Anfechtungen zur Wehr setzen muß, schwimmt er nur auf den ersten Blick). Aus Mangel an Beweisen behandelt ein spektakuläres Sujet auf bemerkenswert unspektakuläre Weise.

Rusty Sabich (Harrison Ford) wird mit den Ermittlungen betraut, als Carolyn Polhemus (Greta Scacchi), eine seiner Mitarbeiterinnen, im Büro des Staatsanwaltes ermordet aufgefunden wird. Alles deutet auf einen Sexualmord hin, den Indizien nach muß das Opfer ihren Mörder gut gekannt haben. Sabich, der bis vor kurzem ein Verhältnis mit ihr hatte und noch immer von der Frau besessen ist, avanciert rasch zum Hauptverdächtigen. Sein Chef (Brian Dennehy), der gerade in der heißen Phase eines Wahlkampfes steckt, stellt sich gegen ihn. Vor Gericht ist die Last der Indizien, die gegen Sabich sprechen, erdrückend, doch seine Ehefrau (Bonnie Bedelia) und sein Verteidiger (Raul Julia) geben nicht auf.

Seit Robert Townes Tequila Sunrise hat keine Hollywood-Studioproduktion den Konflikt zwischen privater und beruflicher Identität derart konsequent dramatisiert. Scott Turows Romanbestseller, den Pakula und Frank Pierson adaptiert haben, ist ein dichtes Netzwerk, in dem sich beide Lebenssphären heillos verstrickt haben. Ehrgeiz und Opportunismus haben tragische private Konsequenzen; Liebe, Freundschaft und Loyalität werden korrumpiert. Pakula registriert nüchtern, wie eine sicher und verläßlich erscheinende Lebensordnung auseinanderbricht, wie sich moralische Grenzlinien verschieben und immer enger um seine Hauptfigur zusammenziehen.

Pakula ist einer der neugierigsten Regisseure des New Hollywood, die beharrliche Wahrheitssuche ist seine kühl verfolgte Obsession. Aber egal, ob sie die Form der journalistischen Recherche, der detektivischen Nachforschung, der Psychoanalyse oder der Selbstfindung in einer Liebesgeschichte annimmt, diese Wahrheitssuche stößt immer auf Figuren, die enigmatisch bleiben. Lüge, Zweifel und Skepsis sind die Koeffizienten in Pakulas Filmen.

Wenn Rusty Sabich regelmäßig die Antwort auf die Frage, ob er der Mörder sei, schuldig bleibt, weil Pakula zur nächsten Szene schneidet, ist das weit mehr als eine Taktik, den Zuschauer hinzuhalten. Die Verzögerung, für den Spannungsbogen des whodunit unverzichtbar, hat der Regisseur auf seinen eigenen Erzählgestus zugeschliffen. Die Untersuchung von Fakten und Charakteren ist für ihn ein Prozeß, der äußerste Behutsamkeit erfordert. Auf diese Weise bleibt Rusty Sabich den Zuschauern zwar rätselhaft, aber nie fremd: Die allmähliche Aufdeckung der Fakten geht einher mit der Selbsterkenntnis des Helden.

Harrison Ford stellt Sabich zunächst als verantwortungsvollen Familienvater und integren Juristen vor, kurz: als Verkörperung puritanischer Tugenden. Erst allmählich enthüllt er ihn als einen Menschen, der sich seinen eigenen Gefühlen entfremdet hat. Die kühle Sachlichkeit, mit der er die ersten Schritte der Ermittlung einleitet, treffen den Zuschauer wie ein Schock. Ford und Pakula besitzen ein feines Gespür dafür, psychologische Zwänge in subtile Manierismen zu kanalisieren: bevor seine Affäre mit der Ermordeten bekannt wird, spielt Sabich nervös mit seinem Ehering. Ford gehört zu den wenigen US-Stars, bei denen underacting und Passivität zu einer Tugend geraten können — in den Szenen mit seinem Chef Brian Dennehy ist er meist ein untätiger Zuschauer, von der Regie zudem in den Hintergrund gerückt. Er ist vielleicht auch der einzige Hollywoodstar seiner Größenordnung, der einen mittleren Helden (fast: einen Helden aus unserer Mitte) glaubhaft darstellen kann.

Pakulas Zusammenarbeit mit seinem Kameramann Gordon Willis zeichnet die gleiche unaufdringliche Souveränität aus. Die Inszenierung gehorcht strenger, fast puritanischer Disziplin. Die Kamera verweigert sich raumgreifenden, eleganten Bewegungen; die Szene, in der Sabich verhaftet wird, ist ein kleines Meisterstück in ihrer behutsamen Verwendung der Handkamera. Gerhard Midding

A.J.Pakula: Aus Mangel an Beweisen (Presumed Innocent) . Nach dem Roman von Scott Turow. Mit Harrison Ford, Paul Winfried und Greta Scacchi. USA 1990, 127 Minuten.