■ NOCH 3306 TAGE BIS ZUM JAHR 2000: Die neuen deutschen Diebe
Daß jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit die Zahl der Raub- und Banküberfälle rapide ansteigt, ist eine statistisch nachweisbare Tatsache. In diesem Jahr jedoch werden alle Rekorde gebrochen. In der ehemaligen DDR hat das Volk einen riesigen Nachholbedarf, was die illegale Geldbeschaffung angeht. So vergeht denn auch kaum ein Tag, an dem nicht in den neuen Bundesländern eine Bank ausgeraubt wird. Allerdings stellen sich die Diebe meist so dämlich an, daß sie gleich geschnappt werden. Denn der kriminelle Nachwuchs im Osten hat ein schwerwiegendes Problem: Ihm fehlt die Erfahrung.
Im Westen konnte jeder Bankräuber werden, der wollte. Schon von klein auf werden wir hier mit Fernsehkrimis bombardiert, in denen genau gezeigt wird, wie's gemacht wird und worauf der angehende Dieb zu achten hat. Auch die Flut von Kriminalromanen ist eine große Hilfe für den Berufsanfänger. Hier kann er alles über die Arbeitsmethoden der Polizei und die Sicherheitssysteme der Banken lernen. Im einstigen Arbeiter- und Bauernparadies waren deshalb Krimis verpönt. Schon 1962 bezeichnete der DDR-Literaturwissenschaftler Ernst Kaemmel den Kriminalroman als ein „Kind des Kapitalismus“, der nur „unter den Bedingungen des verfaulenden Imperialismus“ entstehen könne. Oberguru Kalle Marx sah die ganze Sache etwas lockerer. In seinen Theorien über den Mehrwert meinte er: „Er (der Verbrecher) produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien [...] Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation.“ Also, Ihr ostdeutschen Nachwuchsräuber, vergeßt Kaemmel, denkt an Marx und bringt etwas Farbe in unser Leben! Es kann auch nicht schaden, wenn Ihr ab und zu mal einen Blick über den großen Teich werft. Dort werden inzwischen die Methoden immer ausgefeilter.
Absolute Spitzenreiter des Jahres 1990 sind zwei Texaner, die in einer Telefonzelle einen Überfall mit einer lebenden Waffe durchzogen. Sie rissen die Tür der Kabine auf, hielten dem Pizzalieferanten Tony Brewer eine Schildkröte unter die Nase und drohten: „Beweg dich nicht, sonst kriegst du einen Biß ab!“ Tony gehorchte und rückte sein Geld raus. Später beschrieb er der Polizei die Schildkröte als „ungeheuer groß und häßlich“. Von Tätern und Reptil fehlt jede Spur. Karl Wegmann
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