: Alternative zur Fleischbeschau
■ Christian Herz von der Kampagne und dem Verein gegen die Wehrpflicht über Einberufungen der »Wehrflüchtlinge« in Berlin, die Beratungssituation und zukünftige Aktionen
taz: Das Kreiswehrersatzamt Pankow hat erklärt, daß es bisher »nur eine ganz geringe Zahl« von Einberufungen für Wehrflüchtlinge gebe. Bedeutet das Entwarnung?
Christian Herz: Das wäre schön. Aber wir haben nach wie vor 15.000 eingeleitete Einberufungsverfahren — und die Angst derjenigen, die noch kein Einberufungsverfahren haben. Solange es keine offizielle Entwarnung aus dem Verteidigungsministerium gibt, heißt das für jeden: aufpassen und in den Briefkasten schauen.
Von wie vielen Einberufungen wißt Ihr denn?
Wir haben in den Beratungen momentan 500 bis 800 Leute pro Woche. Davon hat etwa die Hälfte bereits ein Einberufungsverfahren; wir gehen also davon aus, das die offizielle Zahl des Verteidigungsministeriums von 15.000 die absolute Untergrenze ist. Wahrscheinlich müssen 45.000 bis 50.000 mit Einberufungen rechnen.
Diese Verfahren sind noch die alten westdeutschen, die dann zurückgenommen wurden und nun über Berlin abgewickelt werden?
Ja. Diese Einberufungsverfahren stammen von Kreiswehrersatzämtern außerhalb Berlins. Wir haben erst eine definitive Einberufung aus Berlin vorliegen. Auch die Zahlen der Einberufungen zum Zivildienst durch das Kölner Bundesamt sind noch gering. Das liegt aber daran, daß kaum ein Wehrflüchtling anerkannter Verweigerer ist.
Die Beratungszahlen beziehen sich auf alle Beratungstellen?
Ja, auf alle Beratungstellen, inklusive der Anwälte. Mitte der Woche hatten wir erst wieder 140 Leute an einem einzigen Termin. Wir sind jetzt an der Grenze der Leistungsfähigkeit und bilden gerade neue Berater aus — das muß sehr schnell gehen, weil ja ab Frühjahr die 150.000 eingeborenen Berliner potentiell noch dazukommen.
Eure Empfehlung an die Betroffenen, wenn ein Schrieb kommt?
Alle sollen sich möglichst mit uns organisieren und intensiven Kontakt mit den Beratungsstellen halten. Wenn ein Schreiben von außerhalb Berlins kommt, dann ist die Frage der Zuständigkeit des Kreiswehrersatzamtes zu stellen — oder das Schreiben ist ganz zu ignorieren. Was werden denn die nächsten öffentlichen Aktivitäten der Kampagne und des Vereins sein?
Wir starten im neuen Jahr mit einer bundesweiten Unterschriftenaktion zur Abschaffung der Wehrpflicht. Im März/April soll es ein Tribunal gegen die Wehrpflicht geben, auch eine Großdemo — vielleicht in Kombination mit den Ostermarschierern.
Was empfehlt Ihr den jungen Jahrgängen, 1971/72, die voraussichtlich im zweiten Quartal 1991 gemustert werden?
Denjenigen, die jetzt als Originalberliner von den Kreiswehrersatzämtern belästigt werden, können wir nur raten, sich sehr genau zu überlegen, ob sie sich überhaupt erfassen und mustern lassen wollen. Sie sollten prüfen, ob sie nicht bereit sind, die Kreiswehrersatzämter in ihrer Tätigkeit zu behindern — um zu dokumentieren: Es herrscht Frost fürs Militär in Berlin.
Wie groß ist das Risiko?
Das wird als Ordnungswidrigkeit geahndet, das steht unterhalb einer Straftat und wird genauso geahndet wie das unerlaubte Verlassen des Wehrpflichtgebietes. Es ist aber für alle eine Alternative zur Fleischbeschau. Interview: kotte
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