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Vom metaphysischen Lachsack zum öffentlichen Pausenclown

Über Roger Willemsens „Ermittlungen gegen Deutschland“  ■ Von Henryk M. Broder

Der Günter war's, und nicht der Helmut. Wer bisher angenommen hat, die Formel von der „Gnade der späten Geburt“ stamme von Kanzler Kohl (oder wenigstens einem seiner Redenschreiber), der muß sich umorientieren. Ihr Urheber ist der als „linksliberal eingeschätzte Publizist Günter Gaus“, und der hat sein Copyright auf diese Metapher in einer „Anzeige“ gegen „Bundeskanzler Kohl oder Helfershelfer von ihm“ öffentlich kungetan. Das mag einige überraschen, andere nur in der Überzeugung bestätigen, daß der Unterschied zwischen einem hanseatischen Feingeist und einem pfälzischen Naturburschen noch kleiner ist, als man es schon geahnt hat. In jedem Falle handelt es sich um eine nützliche Richtigstellung. Wir verdanken sie Roger Willemsen, einem in London lebenden deutschen Schriftsteller, der in einem 200 Druckseiten langen Essay „das moralische Massiv Deutschland einer kritisch-polemischen Prüfung“ unterwirft. Die Ermittlungen gegen Deutschland, so der Titel der polemischen Fleißarbeit, handeln vor allem von Personen, die in der Öffentlichkeit, in der sie auftreten, einen guten Ruf genießen, als ehrbare, fleißige, opferbereite Menschen gelten.

Willemsen will seine Ermittlungen nicht als individuelle Denunziationen verstanden wissen. Namen müssen genannt werden, weil nur so „kritische Aussagen zur Politik und zum deutschen Geistesleben anstößig gefunden“ werden, aber, versichert er zugleich, es geht „nicht um Personen, sondern um Phänomene“, denen man „nicht mit Respekt oder liberaler Unparteilichkeit“ begegnen dürfe, denn: „Demontage ist Notwehr.“

Das ist eine Faustregel, der ich nur zustimmen kann. Und daß sich mal einer all der selbstlosen, verantwortungsbewußten, immerzu betroffenen, Partei ergreifenden, engagierten, streitbaren, mutigen, kurzum: unerträglichen und schamlos guten Mini-Schweitzers und Quasi- Nightingales annimmt, darauf habe ich schon lange gewartet. Und so habe ich mich nicht nur gefreut, sondern auch innerlich applaudiert, als ich Willemsens Demontage-Übungen nachlas: Martin Walser, die „Helga Goetze der Wiedervereinigung“ und ein Spätheimkehrer „in die Schafkopfrunde der CSU“, dem man leider nicht mehr „wie in der guten alten Zeit raten kann: Geh doch nach drüben!“; Luise Rinser, die „Geschäftsführerin von 'zornig und mutig‘“, die sich immerzu selbst bestätigt, sie sei eine „Unbequeme“, eine „Aufrührerische“, eine „ungehorsame Tochter“ sie ist die Beste: „Niemand melkt den metaphysischen Lachsack besser als Luise Rinser.“ — Heinrich Albertz, der „Pausenclown der öffentlichen Meinung“, ein „Konvertit, der ehemals ein rigider, polizeistaatlicher Parteipolitiker war, und deshalb heute ein desto besserer Friedensdemonstrant ist“, bei dem „am Ende nichts herauskommt als der Nachweis, daß man als Kritiker der Gegenwart herrlich unbehelligt von ihr leben kann“; Franz Alt, „intellektuell ungedient ..., der es tatsächlich schon mal geschafft hat, ohne Meinung zum Zentrum eines Skandals um die Meinungsfreiheit zu werden“ und dem das Verdienst zukommt, „daß die Friedensbewegung von ihren Gegnern und Freunden 'dumm‘ genannt wurde“; Margarete Mitscherlich, deren Gedanken „den Amoklauf der Psychologie vor dem offenbar Unerklärlichen“ beschreiben; Otto Schily, der mit seinen Thesen zu einer neuen deutschen Identität die Deutschtümelei von „Denksportvater Weizsäcker“ „nicht beanstandet, sondern verfeinert“; Franz Xaver Kroetz, der „zum eingetragenen Markenzeichen für Anstößiges“ wurde, der „Kritik zum Kostüm gemacht und gezeigt hat, wie man darin große Geste markiert...: jede Not erschwindelt, jedes Anliegen verraten, jede Initiative auf den Markt abgestimmt...“; H.E. Richter, der sich „vergeblich um kritische Argumente bemüht“, denn: „Ein leerer Sack steht nicht.“

Eine Anzahl weiterer hauptberuflich fortschrittlicher Menschen wie Uta Ranke-Heinemann, Dorothee Sölle, Andre Heller, Margarethe von Trotta, Botho Strauß, Heiner Müller, Daniel Cohn-Bendit, denen wir es zu verdanken haben, daß „das Gedränge in der scheißliberalen Mitte so groß geworden ist, daß einem Günter Gaus geradezu als Putschist erscheinen kann“, runden die Aufzählungen ab, machen aus der Demontage ein Schlachtfest, Ich weiß nicht wann, wenn überhaupt, die Crème der deutschen Intelligenz schon mal so abgebrüstet worden ist, wo die maßgeblichen Kultur-Solisten der Nation so gnadenlos als tönende Hohlkörper, die sich gegenseitig reihum ihre Bedeutung bestätigen, vorgestellt wurden. Auch wenn ich mit Willemsen nicht in allen Fällen übereinstimme, kann ich ihm meinen Respekt nicht versagen. Mit einem Rundumschlag hat er sich um alle potentiellen Förderer, Auftrag- und Preisevergeber gebracht, wissend, daß niemand böser auf Kritik reagiert als jene, die sich selbst für die Garanten der Meinungsfreiheit halten. Mein Respekt wird nicht dadurch vermindert, daß ich einige Namen auf seiner ziemlich kompletten Liste vermisse: Lea (geb.: Edith) Rosh, Günter Walraff, Alice Schwarzer, die immer nur im höheren Auftrag unterwegs sind und für die ebenso wie für die anderen seine Feststellung zutrifft, daß es ein deutsches Charakteristikum ist, „Dinge, die andere Nationen der Freiheit des Individuums überlassen, als Pflicht zu formulieren“.

Willemsen hat die Klassiker der Kritischen Theorie gelesen; wenn er z.B. schreibt: „In der Einheit von Servilität und Despotismus, die den Deutschen kennzeichnet, spiegelt sich sein Verhältnis zum Gesetz: als Angst vor Entgleisungen und als Lust, sie zu bestrafen“, dann klingt das nicht nur nach Minima moralia, es ist auch eine Verbeugung vor Adorno & Horkheimer. Und wenn er mit Blick auf all jene, die sich so angestrengt Gedanken um die „deutsche Identität“ machen, feststellt: „Staatstreue ist eine Bedingung psycho-physischer Wohlfahrt geworden, zu einer Sache der Gesundheit, in dieser Hinsicht rückt das Parlament in enge Nachbarschaft zum Reformhaus“, dann gibt er eine genaue Zustandsbeschreibung des nationalen Ensembles, in dem ehemalige Internationalisten laut über eine Verschärfung des Asylrechts nachdenken und biodynamische Sektierer Verantwortung für das große Ganze reklamieren.

Manchmal freilich geht seine Bildung mit ihm durch, verfällt er in ein Imponiergehabe, das sich im Anhäufen und Name-dropping äußert. Gegen einen blöden Satz von Pfarrer Albertz setzt er ein Zitat von Rainer Maria Rilke; auf Luise Rinser antwortet er mit Adorno, Oskar Lafontaine bekommt sein Widerwort von Janis Joplin und Johann Peter Hebel wird dazu verurteilt, XY-Ungelöst- Zimmermann einen Ordnungsruf zu erteilen. Da wird mit Kanonen auf Zwerghühner geballert, da wird den Anvisierten zuviel Ehre zuteil. Und wenn Willemsen dann auf eine Banalität von Dorothee Sölle („Mitten in den durchgeheizten Räumen nimmt die Kälte zu“) mit Worten von Goethe, Hesse, Böll und Adorno repliziert, dann demonstriert er nicht mehr seine Bildung, sondern nur noch die Fülle seines Zettelkastens, dann werden auch von ihm „Stilblüten zu Ikebana“ arrangiert, ein Kompliment, das er für Johannes Gross parat hält. Vom eigenen Schwung mitgerissen, tritt Willemsen gelegentlich kräftig daneben. „Deutschland — auferstanden aus Latrinen“ ist einfach kein guter Kalauer, nur ein schwaches Wortspiel. Von einer Pflicht „zur Identifikation mit diesem Land“ will er nichts wissen, dies käme einer Ermunterung „zur Teilnahme an seinen Exekutionen in aller Welt“ gleich, aber ein kleines nationales Ressentiment kann er sich doch nicht verkneifen, wenn er mit leisem Bedauern feststellt, Deutschland sei „politisch eine Kolonie Amerikas, ästhetisch eine Kolonie Ikeas“. Das klingt wie die Deutschtümelei, die er bei anderen durchschaut.

Für ein Land wie Deutschland war die Amerikanisierung der Politik und die Ikeasierung des Geschmacks ein Segen, nur so konnte eine pluralistische Kultur etabliert werden, die auch Minderheiten ein Überleben sicherte, nur so konnte eine totale Machtergreifung von Neckermann & Quelle unter deutschen Dächern verhindert werden. In diesem Falle muß man Willemsen mit einem Zitat von ihm selbst entgegentreten, daß nämlich „die Einheit von vagem Erinnern und präzisem Vergessen bezeichnend ist für die Stellung der Deutschen zur Geschichte“, was im Falle von USA und Ikea nur heißen kann, daß von der politischen und ästhetischen Kolonialisierung Deutschlands nicht reden sollte, wer über das Gedränge in den „Kraft- durch-Freunde“-Zügen und die Beliebtheit des „Volksempfängers“ schweigen möchte.

Aber das sind kleine Fauxpas, die dem Autor unsere Anerkennung und seinem Buch die Auszeichnung „wertvoll“ nicht vermiesen sollen. Klug und belesen ist er, schreiben kann er, man könnte ihn radikal, mutig und engagiert nennen, wenn das nicht genau jene Prädikate wären, die schon von seinen Objekten verschlissen wurden. Also sagen wir: Er ist rücksichtslos, frech und vorlaut, wie das Kind in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, aber natürlich auf einem entsprechenden akademischen Niveau. „Die populärste Form, in Deutschland 'gut‘ zu werden, besteht darin, die Rolle des Gewissens anzunehmen“, schreibt er. In der Tat, mit dieser schlichten Technik sind schon viele kleine Geister groß rausgekommen. Wir könnten jetzt auch Namen nenen, aber wegen Weihnachten und Chanukka lassen wir es sein. Roger Willemsen, das scheint nach diesem Buch sicher, wird diese Art der höheren Weihe erspart bleiben.

Roger Willemsen: Kopf oder Adler — Ermittlungen gegen Deutschland. Edition Tiamat, Verlag Klaus Bittermann, Berlin, 200 Seiten, ISBN 3-923118-47-3.

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