Rücktritt des sowjetischen Außenministers: Perestroika oder Diktatur?
■ Der im Westen durch seine Verhandlungsbereitschaft und durch sein Lächeln beliebte sowjetische Außenminister Schewardnadse ist gestern zurückgetreten. Die Machtfrage ist damit aufgeworfen: Weitere Demokratisierung oder Ordnung durch die Rote Armee?
Drei Tage harrte Außenminister Eduard Schewardnadse aus. Versteinert und mit stoischer Miene folgte er auf der Regierungsbank den heftigen Anwürfen, die die versammelten Volksvertreter des höchsten gesetzgebenden Organs der UdSSR, dem Volksdeputiertenkongreß, gegen die Politik der Regierung und sein außenpolitisches Konzept vorzubringen hatten. Am vierten Tag reichte es ihm. Als Schewardnadse zum Podium ging, ahnte noch keiner der 1.900 Abgeordneten, was folgen würde. „Dies ist die kürzeste und schwierigste Erklärung, die ich je in meinen Leben abgegeben habe“, sagte der Außenminister und teilte seinen Rücktritt mit.
Schewardnadses Begründung war ein dramatischer Appell: „Die Diktatur gewinnt bei uns an Boden,“ und mit Blick auf die nur wenigen demokratischen Kräfte unter den Deputierten warnte er: „Im allerernsten Sinn des Wortes, Genossen Demokraten, ihr lauft auseinander. Die Reformkräfte haben sich in die Büsche geschlagen. Es lauert eine Diktatur. Ich sage das in aller Verantwortung. Keiner weiß, wie diese Diktatur aussehen und was für ein Diktator es sein wird.“
Michail Gorbatschow hat den Rücktritt seines Außenministers in einer ersten Reaktion vor dem Kongreß der Volksdeputierten verurteilt. Er habe Schewardnadse zum neuen Vize-Präsidenten vorschlagen wollen, erklärte Gorbatschow am Donnerstag in Moskau. Die Entscheidung Schewardnadses sei für ihn eine „Überraschung“ gewesen, betonte Gorbatschow. Nun müsse „alles durchdacht“ und nichts überstürzt werden, sagte der Kreml-Chef.
Spekulationen, Gorbatschow werde eventuell den Rücktritt nicht annehmen, trat der Sprecher des sowjetischen Außenministers, Witali Tschurkin, entgegen: Der Rücktritt sei „endgültig“, die Entscheidung sei Schewardnadse nicht einfach gefallen, sie habe ihn „viele schlaflose Nächte“ gekostet. Schewardnadse habe, so Tschurkin, nur zwei Menschen von seiner Rücktrittsankündigung informiert. Wen der Außenminister ins Vertrauen zog, ließ der Sprecher im Dunkeln. Schewardnadse werde sein Amt bis zur Bestellung eines neuen Außenministers weiter ausüben.
Gorbatschow forderte in seiner Ansprache die Deputierten auf, die Ereignisse „nicht zu dramatisieren“ und „nicht in Panik zu verfallen“. Gorbatschow berichtet, er habe am Donnerstag nachmittag zweimal mit Schewardnadse telefoniert. Dabei habe Schewardnadse erklärt, sein Rücktrittsgesuch sei ein Protest gegen die Offensive der Perestroika- Gegner. Die Perestroika müsse verteidigt werden. Gorbatschow erklärte, daß er diesen Standpunkt Schewardnadses teile. Er teile aber nicht die These Schewardnadses über eine drohende Diktatur. Er verfüge über vielfältige Informationen, „doch derartiges ist mir nicht bekannt“, betonte Gorbatschow. Gleichzeitig wies er Spekulationen zurück, daß er selbst nach einer Diktatur strebe. Bei der von ihm beabsichtigten Präsidentenherrschaft könne von Diktatur nicht die Rede sein, meinte der Kreml-Chef. „Aber wir brauchen einen starke exekutive Macht.“
Der Volksdeputiertenkongreß bekräftigte, daß die Außenpolitk des Landes nicht verändert werden dürfe. Schon seit längerem steht Schewardnadses Außenpolitik unter starkem Beschuß orthodox gewirkter Kräfte. Erste heftige öffentliche Angriffe mußte er auf dem 28. Parteitag der KPdSU abwehren, als ihm die geballten Kräfte des militärisch- industriellen Komplexes „Verzichtspolitik“ vorhielten. In den letzten Wochen haben besonders die Vertreter der rechtsaußen Fraktion „Sojus“ im Volksdeputiertenkongreß das Feuer auf ihn eröffnet. Allen voran deren Koordinator, Oberst Viktor Alksnis. Ohne ihn beim Namen zu nennen, bezog sich Schewardnadse in seiner sehr emotionalen Rede auf einen Vorfall aus jüngster Zeit: Zwei Volksdeputierte mit Oberst-Epauletten hätten gesagt, ihnen sei es gelungen, den Innenminister zu entlassen, nun werde auch die Zeit kommen, um mit dem Außenminister abzurechnen. „Ich glaube, wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wer hinter diesen Kräften steht.“ Als Mensch und Bürger „kann ich mich nicht mit den Prüfungen abfinden, die auf unser Volk warten. Ich bin aber ganz und gar überzeugt, eine Diktatur wird keine Zukunft haben, nur Freiheit und Demokratie“, erklärte Schewardnadse.
Rätselraten, Spekulationen und Gerüchte hatten am Donnerstag in der sowjetischen Hauptstadt Hochkonjunktur. War Gorbatschow eingeweiht, fragte 'Tass‘ in einem Kommentar. Oder hat Gorbatschow nach seinem Vertrauten Alexander Jakowlew und dem für eine weiche Linie eintretenden Innenminister Wadim Bakatin nun auch die Seele seiner neuen Außenpolitik, nämlich Schewardnadse, als Mitstreiter verloren?
Das meinen vor allem die Anhänger radikaler demokratischer Reformen. Nikolai Tutow von der Sozialdemokratischen Assoziation schloß nicht aus, daß als nächster sogar der Initiator der Perestroika, Michail Gorbatschow selbst, zurücktreten könnte. Für ihn und viele andere ist der Rücktritt des Außenministers ein weiterer Sieg der rechten Kräfte, die nicht nur in die „Mannschaft der Regierung“ eindringen.
Der konservativ-kommunistische Oberst Nikolai Petruschenko, einer der Gegner Schewardnadses, der auch Gorbatschow kritisiert hatte, machte aus seiner Freude keinen Hehl. „Seine (Schewardnadses) Politik lief nicht nur den Interessen des Staates zuwider, sondern auch der Glasnost,“ vertraute er der Nachrichtenagentur Interfax an. Schewardnadse habe dem Westen zu viele Zugeständnisse gemacht, sagte Petruschenko weiter, der nach eigenen Angaben eine Reihe von „geheimen Dokumenten“ zu Gesicht bekommen hat. Auf dem Posten des sowjetischen Außenministers wünscht sich Petruschenko einen „Mann, der die Interessen des Volkes und des Staates hart und besser vertritt“.
Am Vortag hatte der sowjetische Regierungschef Ryschkow vor dem Volksdeputiertenkongreß Gorbatschow offen kritisiert und gesagt, daß der Präsident selbst für das Scheitern der Perestroika verantwortlich sei. Mit seiner insgesamt scharfen Analyse, die 'Tass‘ als Abschiedsrede des Regierungschefs darstellte, hatte sich Ryschkow als Wortführer des konservativen Lagers empfohlen, dessen Vertreter für eine Umkehr in der Innen- und Außenpolitik eintreten.
Verschiedene nationalistische Fraktionenen Georgiens beschuldigen sich gegenseitig, ein „Spiel“ Schewardnadses mitzumachen und seine Rückkehr nach Georgien vorzubereiten. Hintergrund: In den letzten Monaten ist der gebürtige Georgier auch in seiner Heimat zunehmend in Ungnade gefallen. Zwei Lager haben sich dort gebildet, Feinde und Freunde Schewardnadses. Die nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen halten im seine Treue zu Moskau vor. Der kürzlich gewählte Präsident Georgiens, Swiad Gamsachodia, bezeichnete ihn sogar als einen Feind der georgischen Nation. Als Mitglied einer Unionsregierung, die womöglich die Unabhängigkeitsbewegungen mit Gewalt niederringt, hätte er keine Chance mehr in die Politik dieser Republik zurückzukehren. Klaus-Helge Donath, Moskau
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