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»Du wollen auch Apfelfüllung?«

■ Wo die Liebe noch Raum greifen kann: Vorgezogenes Weihnachtsfest mit einem Leihrussen

Es gibt keine Weihnachtsrussen mehr, es sind schon alle vergriffen. Wie gut, daß Familie J. vorgesorgt hat. Bereits am dritten Advent konnte der russische Leutnant Wladimir Karlezow deutsche Nächstenliebe vom Tannenbaum zapfen. Eingeladen war auch

Christel Ehlert-Weber

Zugegeben, J. zählt nicht eben zu meinen Busenfreunden. Eher ist er ein Bekannter; einer der Sorte, die ihre eigene Großmutter verkaufen würde. Mir dagegen verkauft J. — er weiß einfach um meine Vorliebe, das, was die anderen später hübsch als Fertiggericht verdauen, im Rohzustand vorkosten zu wollen — eine Einladung zum vorgezogenen Weihnachtsfest mit einem Rotarmisten. Für 150 Mark.

Nun rangieren Weihnachtsfeiern in meiner Beliebtheitsskala gesellschaftlicher Zusammenkünfte nicht gerade im oberen Drittel. Ich meide sie eher. Daß ich dieses Mal freiwillig und dazu noch zu solch horrendem Eintrittsgeld eine derartige Veranstaltung aufsuche, mag meiner erwähnten, nicht ganz anständigen Neugier geschuldet sein. Eine Neugier, die durch wochenlangen medialen Beschuß noch gesteigert worden ist.

Bekanntlich ist im Monat Dezember dem allgemeinen Gutsein kaum zu entkommen. Heuer nun gestalteten sich Stadtspaziergänge zu wahren Slalomläufen zwischen klappernden Sammelbüchsen; inmitten all der Spendenaufrufe, Kontonummern und Bankleitzahlen waren andere Nebensachen von Belang in den Zeitungen kaum noch ausfindig zu machen. Drehte ich das Radio an, rief irgend jemand aufgedreht »Pomosch« oder so ähnlich in mein Ohr, unterlegt mit einem Musik- und Sprechtonmaterial, das man wohl aus dem Archiv gefischt hatte; Stichwort: Winterhilfe 43. Richtete man sein Augenmerk auf den Fernsehapparat, war man früher oder später zu Gast in einem ziemlich baufälligen Haus in Krasnoturjinsk, wo die kopfbetuchte, ältere Sowjetbürgerin auf einen ansehnlichen Riß in ihrer Wohnküche wies und erklärte, dort hinein stopfe sie Zeitungspapier gegen die Kälte, und außerdem habe sie ziemlich starken Hunger.

Ob Milchpulver für Leningrad, Windeln für Kiew, Einwegspritzen für das immer noch fehlende Kinderkrankenhaus von Sidorovsk, Haferflocken und Bastelmaterial für ein Altenheim in Retropavolsk, Heizöl für das Rathaus von Omsk, Einwegfeuerzeuge für die wackeren Feuerwehrmänner von Nazimovo, Weihnachtsbäume für die Kindergärten in Alma Ata... — es gab dieses Jahr reichlich Gelegenheiten, und die Entscheidung fiel schwer, wo die geliebte Nächstenliebe am effektivsten Raum greifen und wohin man am geeignetsten heimische Kulturrestbestände entsorgen könnte.

Kurzum, in dieser Situation erreicht mich der Anruf meines Bekannten J. Ich: »150 Mark für das Weihnachtsfest mit einem russischen Soldaten bei deinen Eltern? Findest du das nicht ein bißchen überzogen?« Doch J. hat triftige Verkaufsargumente. »Das Geld soll doch dafür sorgen, daß es ein wirklich besonderes Fest wird. Du hast also die Möglichkeit, deinen Winterhilfsobolus für die sowjetische Hungerbevölkerung auf unkonventionellem Weg zu entrichten. Trotz dieser ganzen medialen Vernetzung kannst du doch immer noch nicht persönlich dabeisein, wenn in Kalinin der Russe mit leuchtenden Augen dein Weihnachtspaket auspackt. Bei uns zu Hause dagegen kannst du zugucken, wie der Leutnant — das ist nämlich kein einfacher Soldat — bei meinen Eltern am dritten Advent mit deinem Geschenk unterm Weihnachtsbaum sitzt. Was der dazu sagt, wird von einem Dolmetscher simultan übersetzt; mein Vater serviert seinen traditionellen Gänsebraten mit Rotkraut; Getränke, natürlich auch Wodka, sind frei; und außerdem — es gibt doch schon gar keine Weihnachtsrussen mehr. Also, selbst wenn du dir einen holen wolltest, sie sind alle vergriffen. Es scheint, die Berliner wollen sich mit aller Macht von der Frontstadtidentität verabschieden.«

Enttäuschung in Zivil

Also bedanke ich mich am dritten Advent in einer Zehlendorfer Villa bei Frau J., der Mutter von J., mit einem Blumenstrauß für die herzliche Einladung, worauf sie jenes Aber- das-wär'-doch-nicht-nötig-Lächeln bereithält. Herr J. guckt nur kurz um die Ecke — offenbar ist ihm sein Küchenschürzenaufzug nicht ganz geheuer — und sagt: »Ah, ich dachte, das wär' schon der Russe.«

Wie ich in den ersten 10 Minuten erfahre, hat Familie J. ihr Geld mit kleinen Emailleschildern gemacht. Im Zuge der elektrischen Restauration der Bundesrepublik war es besonders der allüberall anzutreffende Blitz mit dem Hinweis »Vorsicht, Hochspannung!«, der aus dem kleinen Familienunternehmen einen mittelständischen Betrieb gemacht hat. Heute ist die Produktion auf Reproduktionen ausgerichtet: Man bringt alte Reklametafeln in limitierter Auflage auf den Kunstgewerbemarkt. Ansonsten ist Frau J. ganz entzückt darüber, daß sie nun endlich die Freundin ihres Sohnes kennenlernt. Und obendrein zu solch einem Anlaß, wo sie sich das schon immer gewünscht habe, ein Fest, bei dem ein unglücklicher Mensch sich »einmal in seinem Leben so richtig wohlfühlt... Nein, nein, ich meine nicht Sie, sondern unseren russischen Gast. Wo bleibt der denn nur?«

Endlich tritt der Gegenstand dieses karitativen Überdrucks auf. Ein junger dunkelhaariger Mann, in seiner ganzen Erscheinung eher ein Offizier der k.u.k. Monarchie als ein Fossil des Kalten Krieges. »Was hat der denn an?« entfährt es leise der Mutter. Wladimir Karlezow trägt einen gutsitzenden dunklen Anzug mit weinroter Krawatte über steingrauem Hemd. Immerhin spricht er in einer Sprache, die den begleitenden Dolmetscher Heinz in Aktion treten läßt. »Mit dem Erlaß vom 1. Dezember ist den Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte die Wahl ihrer Bekleidung in der Öffentlichkeit generell freigestellt, solange sie nicht gegen das sittliche Empfinden des gastgebenden Landes verstößt. Und dennoch dürfte auf absehbare Zeit damit zu rechnen sein, daß der gemeine russische Soldat in seiner Uniform zu sehen ist. Es sei denn«, schiebt der quirlige Ostberliner Übersetzer mit offensichtlich fundierter Hochschulrussischkenntnis nach, »es sei denn, die deutsche Bevölkerung startet eine Kleidersammlung. Vielleicht unter der Parole ‘Zivilkleidung für alle‚.«

»Meinen Segen haben Sie«, erklärt Herr J. und streckt Wladimir Karlezow seine Hand entgegen. »Das letzte Mal haben wir uns Aug' in Aug' am Donez-Becken gegenübergestanden. Das wollen wir heute vergessen und das neue Zeitalter feiern. Schauen Sie, unser Tannenbaum!« Er faßt seinen Gast unter den Arm und geleitet ihn ins Wohnzimmer.

»Wie kommt es«, möchten Wladimir Karlezow und Dolmetscher Heinz angesichts des Kerzenpracht wissen, »daß Sie das heilige Fest vor dem 24. Dezember begehen?«

»Ja, weißt du«, sagt der Vater, und es bleibt unklar, wen er duzt, »das ist so: Wir wollen diesen ganzen Weihnachtsrummel nicht mitmachen. Über die richtigen Feiertage sind wir schon in unserem Chalet in Österreich, skifahren und den Schnee genießen. Aber jetzt entschuldigst du mich einen Moment, ich muß die Gans aus dem Ofen holen.«

Derweilen schenkt die Mutter den Begrüßungssekt aus. »Mögen Sie Tiere?« fragt sie und deutet auf die beiden Vogelkäfige auf der Wohnzimmerkonsole. »Den zweiten hat mir mein Mann heute geschenkt. Unser Romeo singt nicht mehr. Da muß man dann einen zweiten Kanarienvogel holen, ein Männchen in einem Extrakäfig, und eine Pappe zwischen die beiden stellen. Dann fangen sie wieder zu singen an. Ich mach' Ihnen das mal vor.«

Sie legt eine Schallplatte mit Kanarienvogelstimmen auf, und prompt heben die Vögel in ihren Käfigen zu lärmen an. Wir haben uns inzwischen auf der Polstergarnitur niedergelassen. Mein Bekannter ist gerade dabei, mit vorgeschobenen Lippen die Schallplatte durch eigenes Gepfeife zu überbieten. Wladimir Karlezow versucht die Konversation in umgangssprachliche Bahnen zu lenken und läßt verlauten: »Das erinnert mich stark an den Vogelhändler, besonders in der Interpretation von Lorin Mazel...«

Eingeschlagenes Brustbein

»Kinder, das Essen ist fertig«, unterbricht der Vater und rangiert den Teewagen mit einer überdimensionalen Gans an den Tisch. »Sie war so groß, daß ich ihr das Brustbein einschlagen mußte. Sonst wär' sie gar nicht in den Ofen gegangen«, erklärt er. »Mit Apfelfüllung. Du wollen auch Apfelfüllung? Sehr gut!« ergänzt die Mutter fragend. Der Gast möchte lieber nur etwas Brustfleisch und nicht soviel Soße.

»Sagen Sie mal, Herr Wladimir«, eröffnet der Vater, als alle Teller beladen sind, das Tischgespräch, »stimmt es eigentlich, daß jedes Jahr 80.000 — oder waren es nur 8.000 — russische Soldaten in Deutschland ums Leben kommen, weil sie von ihren Vorgesetzten zu Tode bestraft... ich meine, ist das wirklich wahr?«

Wladimir Karlezow, der Messer und Gabel entgegen meiner Erwartung vollkommen selbstverständlich zu führen weiß, zieht die linke Augenbraue in die Höhe und läßt antworten: »Sie werden verstehen, daß die genaue Zahl der Betriebsunfälle in die Kategorie der militischen Geheimnisse fällt. In gewisser Hinsicht könnte man diese Menschenopfer auch als unkonventionellen Abrüstungsbeitrag begreifen. Doch letztendlich, um Ihnen aufrichtig zu antworten, liegt das Führen derartiger Statistiken außerhalb meines Kompetenzbereichs. Ich bin mehr mit der kulturellen Versorgung der Streitkräfte beschäftigt.«

»Ach, so was gibt's bei Ihnen auch?« — mein Bekannter verhehlt ein Erstaunen nicht.

»Ja, verstärkt. Seitdem der Kampfauftrag zu einem defensiven Präsenzauftrag modifiziert worden ist, gilt es die Truppe zu unterhalten. Also, um einmal eine Anekdote zu erzählen, haben wir uns um eine Show von Bob Hope...«

»Wer ist denn das?« will die Mutter wissen.

»Ein amerikanischer Komiker, der sich als Truppenunterhalter einen ähnlichen Namen gemacht hat wie Glenn Miller oder... egal. Sie wissen: Unser Nachrichten- und Informationssystem ist nicht so auf dem laufenden wie das Ihre. Wir haben schließlich in Erfahrung bringen können, daß Bob Hope schon vor Jahren gestorben ist.«

»Wenn man sich das ganze Elend in Ihrer Heimat anschaut — möchten Sie noch ein paar Kartoffeln?« Die Mutter reicht ihm die Schüssel über den Tisch: »Also wenn man das so sieht, fragt man sich doch, ob es nicht wichtigere Sachen als Bob Hope gibt.«

»Die bestehende Lebensmittelknappheit in der UdSSR ist ein grundlegendes Distributionsproblem.« Es kostet Wladimir Karlezow sichtlich Mühe, seinen Redefluß für die Verdopplungen des Dolmetschers zu unterbrechen. »Es gibt genügend Lebensmittel, so daß niemand hungern müßte. Doch leider funktioniert die Verteilung der Waren nicht. Unter diesem Aspekt, und diese These mag Ihnen gewagt vorkommen, trägt die westliche Sachspendenwelle, die sich derzeit über die Sowjetunion ergießt, zu einer Verschärfung des Distributionschaos bei. Inwiefern diese Hilfsaktionen bewußt als politisches Mittel benutzt werden, um die Sowjetrepubliken in einem noch größeren Ausmaß zu destabilisieren, kann man nicht genau sagen. Jedoch ist dies eine durchaus denkbare Variante kapitalistischer Außenpolitik im humanitären Weihnachtsmäntelchen.«

»Aber hören Sie«, erregt sich J., der eine antiautoritär gefärbte Vergangenheit sein eigen nennt, »was Sie da reden, ist für mich eine neostalinistische Legitimation des Status quo.«

»Der weint gar nicht!«

»Kinder, nun streitet euch doch nicht«, geht die Mutter dazwischen. »Jetzt trinken wir erst mal einen Wodka, und dann verteilen wir die Geschenke.«

Wladimir Karlezow bekommt: von J. ein Taschenwörterbuch Russisch-Deutsch, Deutsch-Russisch; von mir einen antiquarisch erstandenen Bildband Die Rote Armee befreit Berlin; von der Mutter ein paar wollene Männerstrumpfhosen aus dem Hause Armani; vom Vater ein Fotoalbum mit den Reproduktionen der Bilder seines Rußlandfeldzugs (»So war Rußland im Krieg, damals, als du noch gar nicht auf der Welt warst«).

Der Beschenkte seinerseits revanchiert sich mit einem aufwendigen Bildband aus dem Prestel-Verlag (1983): Codex Seraphinianus, einer Enzyklopädie irdischen Lebens, geschrieben und gemalt in einer nicht zu dechiffrierenden Sprache.

»Der weint ja gar nicht«, flüstert die Mutter dem Vater zu, in ihrer Rührungserwartung sichtlich enttäuscht. »Darauf trinken wir einen«, schlägt der Sohn vor. Der Abend nimmt einen nahezu programmatischen Verlauf.

Wladimir Karlezow registriert in tadellos aufrechter Haltung, wie die Mutter den Vater gerade noch daran hindern kann, die Narben einer Kriegsverletzung im oberen Oberschenkelbereich vorzuführen. Nach diesem Kraftakt entschuldigt sie sich; und ihr Gatte geht dazu über, die russische Trinkkultur durch wildes Um-sich-Werfen ausgetrunkener Wodkagläser zu demonstrieren. J. sagt: »Ach, Vati!« Der Übersetzer übersetzt, trotz schwerer Zunge, eisern.

Wladimir Karlezow beugt sich über den Tisch. In nahezu akzentfreiem Deutsch sagt er zu mir: »Wenn ich einmal Thomas Manns Bemerkungen über Heinrich Heine paraphrasieren darf, so scheint mir eine gewisse Verschiebung im Habitus des deutschen Bürgers stattgefunden zu haben. Aber natürlich war vom damaligen Standpunkt aus noch nicht absehbar, in welchem Ausmaß philantropisches Bewußtsein sich zu einem demokratischen Amalgam entwickeln würde, und das offensichtlich quer durch alle Schichten.«

Noch ehe ich darauf antworten kann, steht er auf, geht zum Telefon und bestellt sich ein Taxi.

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