: Gegen die Aufgeregtheit
■ V.S. Naipaul plädiert für die universelle Zivilisation DOKUMENTATION
Die Idee einer universellen Zivilsation kam mir erst vor elf Jahren, als ich einige Monate in verschiedenen nichtarabischen islamischen Ländern zubrachte — Iran, Indonesien, Malaysia, Pakistan —, in dem Versuch, ihre Aufgeregtheit zu verstehen. Die islamische Aufgeregtheit wurde damals gerade sichtbar.
Ich dachte, ich würde unter Menschen kommen, die den Menschen meiner Heimat entsprechen, der indischen Gemeinschaft von Trinidad. Viele der Inder waren Moslems; im 19. Jahrhundert hatten wir beide, meine Gemeinschaft und die Länder die ich besuchte, eine ähnliche Imperial- und Kolonialgeschichte. Aber es war ganz anders.
Trotz der gemeinsamen Geschichte hatte ich einen anderen Weg eingeschlagen. Ich hatte vor dem hinduistischen Hintergrund eines instinktiven, ritualisierten Lebens, innerhalb des wenig verlockenden kolonialen Trinidad, viele Ebenen der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis durchgemacht. Man hatte mir beigebracht, wie man Fragen stellt, was Bildung bedeutet. In meinem Kopf konnte ich vier, fünf, sechs kulturell verschiedene Ideen behalten.
Und nun kam ich unter nichtarabische Moslems und fand ein kolonisiertes Volk, dessen Glauben ihnen all diese wachsende kulturelle und geschichtliche Welterkenntnis versagt hatte, in welche ich auf der anderen Seite der Erkugel hineingewachsen war.
Bevor ich meine Reise antrat — damals regierte noch der Schah — war in den USA ein kleiner Roman erschienen — „Foreigner“ von der jungen Iranerin Nahid Rachlin — der in seiner verdeckten, unpolitischen Art die kommende Hysterie vorwegnahm. Seine Hauptfigur ist eine junge Iranerin, eine Biologiewissenschaftlerin in Boston. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und erscheint auf den ersten Blick gut angepaßt. Aber als sie in den Ferien nach Teheran zurückkehrt, regt sich in ihr ein Verlustgefühl. Sie denkt nach über ihre Zeit in den USA: eine unklare Zeit, die ihr nun leer erscheint. Sie hat ihr Leben nie im Griff gehabt. Wir erahnen, daß sie unvorbereitet war für die Wanderung weg aus der geschlossenen iranischen Welt — dort war der Glauben der ganze Weg, er füllte alles, er ließ keine Ecke des Denkens oder des Willens unberührt — hin zur anderen Welt, wo man ein Individuum sein mußte und verantwortlich, wo Menschen Berufungen entwickelten, von Ehrgeiz und Erfolgen bewegt wurden und an Vervollkommnung glaubten.
In ihrer Traurigkeit wird sie krank. Sie geht ins Krankenhaus. Der Arzt versteht ihr Unglück. Er sagt der jungen Frau, ihr Schmerz käme von einem alten Geschwür. „Was Sie haben“, sagt er in seiner melancholischen, seduktiven Art, „ist eine westliche Krankheit.“ Und die Biologiewissenschaftlerin trifft eine Entscheidung. Sie wird auf das von Boston aufgezwungene Leben des Intellekts, der sinnlosen Arbeit verzichten; sie wird im Iran bleiben und den Schleier tragen.
Er ist wunderbar befriedigend, dieser Verzicht. Aber er enthält einen intellektuellen Fehler: Er nimmt an, Menschen würden sich weiter Mühe machen da draußen, würden Heilmittel und medizinische Geräte produzieren, damit das Krankenhaus des iranischen Doktors weiterarbeiten kann. Immer wieder fand ich auf meiner islamischen Reise im Jahre 1979 eine ähnliche unbewußte Widersprüchlichkeit im Denken der Menschen.
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Insbesondere erinnere ich mich an den Chefredakteur einer Zeitung in Teheran. Seine Zeitung stand dort, wo das Herz der Revolution schlug. Im Sommer 1979 war sie von Leben erfüllt — ein glorioser Zustand. Sieben Monate später, als ich zurück nach Teheran ging, hatte sie ihr Herz verloren; das einst von Leben wimmelnde, große Büro war leer; alle Mitarbeiter außer zweien waren verschwunden.
Die amerikanische Botschaft war besetzt worden; es folgte eine Finanzkrise; viele ausländische Firmen machten dicht; der Anzeigenfluß versiegte; der Chefredakteur wußte nicht mehr, wie es weitergehen sollte; jede Ausgabe der Zeitung war ein Verlustgeschäft; der Chefredakteur, könnte man sagen, wurde genauso eine Geisel wie die Diplomaten. Wie ich nun erfuhr, hatte er auch zwei Söhne im Studentenalter. Einer studierte in den USA; der andere hatte ein Visum beantragt, aber dann kam die Geiselkrise.
Mir war dies neu — daß den Söhnen eines der Sprecher der islamischen Revolution die Vereinigten Staaten so wichtig hätten sein sollen. Ich sagte dem Chefredakteur, daß ich überrascht sei. Er sagte, insbesondere in Bezug auf den Sohn, der auf sein Visum wartete: „Es ist seine Zukunft.“
Gefühlsbefriedigung auf der einen Seite, Zukunftssorge auf der anderen. Der Herausgeber war genauso gespalten wie alle anderen.
Eine der frühesten Geschichten von Joseph Conrad aus Ostindien, aus den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, handelt von einem lokalen Raja oder Führer, einem mörderischen Menschen, einem Moslem (obwohl dies nirgends ausdrücklich gesagt wird), der in einer Krise seinen Magie-Berater verloren hat und in der Nacht zu einem der englischen Handelsschiffe im Hafen hinausschwimmt, um die Matrosen, Vertreter der Großmacht von der andere Seite der Erdkugel, nach einem Amulett zu fragen, einem magischen Objekt. Die Matrosen sind sprachlos; aber dann gibt einer von ihnen dem Raja eine britische Münze, ein Sixpence-Stück zur Feier des Jubiläums der Königin Viktoria; und der Raja ist glücklich.
Conrad faßte die Geschichte nicht als einen Witz auf; er lud ihr philosophische Implikationen für beide Seiten auf, und ich denke jetzt, daß seine Sicht richtig war. In den 100 Jahren, die seit dieser Geschichte vergangen sind, ist der Reichtum der Welt gewachsen, die Macht ist gewachsen, die Bildung hat sich ausgedehnt; und die Unruhe — der „philosophische Schrei“, um mit Conrad zu reden — der Menschen am Rande ist lauter geworden.
Die Spaltung im Geist des revolutionären Herausgebers und der Verzicht der fiktiven Biologin enthalten beide einen Tribut — uneingestanden, aber umso tiefer — an die universelle Zivilisation. Sie gibt nicht bloß einfache Magie; andere, schwierigere Sachen kommen auch von ihr: Ehrgeiz, Ausdauer, Individualität.
Die universelle Zivilisation hat zu ihrer Entfaltung lange gebraucht. Sie war nicht immer universell; sie war nicht immer so attraktiv wie sie es heute ist. Mindestens drei Jahrhunderte lang war sie durch die Ausdehnung Europas rassistisch geprägt, und dies bereitet immer noch Schmerzen. Auf Trinidad wuchs ich in den letzten Tagen dieses Rassismus auf. Und deswegen schätze ich es vielleicht höher, daß seit dem Ende des Krieges weitreichende Veränderungen eingetreten sind, daß es einen außergewöhnlichen Versuch gegeben hat, dem Rest der Welt und allen Strömungen des Denkens einen Platz in der Zivilisation zu gewähren.
Denn innerhalb dieser Zivilisation bewegte ich mich von Trinidad nach England, von der Peripherie ins Zentrum. Manche ihrer führenden Grundsätze waren für mein Gefühl vielleicht wichtiger als für Leute, denen solche Sachen selbstverständlich waren. Eine derartige Erkenntnis ist, daß das Streben nach Glück — „pursuit of happiness“ — eine wunderbare Idee ist.
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Die Idee des Strebens nach Glück bildet den Kern der Attraktivität der Zivilisation für so viele, die außerhalb von ihr oder an ihrer Peripherie leben. Ich finde es wundervoll, zu beobachten, wie sehr sich diese Idee nach zwei Jahrhunderten und nach der schrecklichen Geschichte des ersten Teils dieses Jahrhunderts doch bewährt hat. Sie ist eine elastische Idee; sie wird allen gerecht. Sie impliziert eine bestimmte Art von Gesellschaft, eine aufgeweckte Geisteshaltung. Sie ist eine große menschliche Idee. Sie kann nicht auf ein festgelegtes System reduziert werden. Sie kann keinen Fanatismus hervorbringen. Aber die Menschen wissen, daß es sie gibt, und andere, rigidere Systeme werden daher irgendwann vom Winde verweht. V.S. Naipaul
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