: Erdbeben im Winter ist nicht vorgesehen
Am Namenstag der Heiligen Lucia forderte ein Erdbeben in Sizilien wieder mehrere Tote/ Das extra für solche Fälle geschaffene Zivilschutzministerium glänzt durch Abwesenheit/ Dafür sind die Katastrophenhaie wieder voll im Einsatz ■ Aus Carlentini Werner Raith
Das Geräusch und ein wenig auch das Gefühl ähneln dem Knall mit nachfolgendem Scheiben- und Geschirrklirren, das Düsenjäger beim Durchstoßen der Schallmauer über Wohngegenden erzeugen. Doch das Geschrei und Gerenne, die über den Kopf gehaltenen Bretter oder Pfannen zeigen nur zu gut, daß dies wieder einmal eine jener „Scosse“ war, die in dieser Gegend schon mehrere Male die Häuser und Kirchen, Palazzi und Türme haben einstürzen lassen. „Lauf, Fremder, lauf“, schreit mir eine alte Frau zu, die zwei Ziegen aus einem der verfallenen Häuser vor sich heraustreibt, „es kommt wieder, das terremoto.“
Denn: „Das war Santa Lucia, und die holt sich noch mehr von uns.“ Zwölf Menschen wurden tot geborgen, fünf weitere starben an Herzschlag, als vor einer Woche — Namenstag der Heiligen Lucia — hier die Erde fast eine Dreiviertelminute bebte. Der Rumpler diesmal ist nach Ansicht der Forscher die letzte größere Erschütterung, der die Gegend wieder für einige Zeit stabilisiert. Doch die Menschen vermuten, daß Santa Lucia noch mehr Opfer will und verbringen die Nächte trotz schneidender Kälte lieber in Autos oder in niedrigen Schaf- und Kuhställen auf dem Land.
In Japan oder den USA, haben Erdbebenforscher nach dem Stoß der Stärke Sieben auf der Mercalli-Skala erklärt, hätte ein solcher Rumpler allenfalls ein paar Blumentöpfe angekippt, aber kein Haus einstürzen lassen. Hier in Carlintini — und ebenso in den benachbarten Städtchen Melilli, Villasmundo, Scordia, Noto, Avola — aber stürzten die Gebäude zu Dutzenden ein. Denn „gebaut ist alles wie ein Kartenhaus“, stellt Calogero Manino fest, ein ehemaliger Baudezernent, „alles aus Tuffstein, dem sprödesten aller Materialien, da genügt ein Sylvesterknaller nebenan und schon fallen Stücke herunter.“ Warum genehmigen er und seine Kollegen selbst denn dann solche wackeligen Bauten? Er hebt die Schultern: „Schau, von denen da, die eingestürzt sind, waren kein einziges genehmigt, alles Schwarzbauten.“
Das alte Lied: Weil in Italien Baugenehmigungen oft sechs, acht Jahre dauern und in vielen Gegenden — teils aus Umwelt-, teils aus Denkmalschutz, teils weil andere größere Nutzungspläne bestehen — überhaupt nicht gebaut werden darf, stellen die Grundstücksbesitzer ihre Häuser eben illegal in die Gegend. Schaffen sie es, auf eines der Zimmer in der ersten Bau-Nacht ein Dach draufzusetzen, darf das Gebäude bis zu einem Gerichtsentscheid auch nicht mehr abgerissen werden. Das aber entscheidet meist für eine mäßige Geld- oder Bewährungsstrafe, und der Bau geht weiter.
Statische Berechnungen unterbleiben da meist ebenso wie Bauabnahmen. In ganz Italien stehen mehr als zehn Millionen solcher Schwarzbauten, vor vier Jahren gab es ein „Amnestie“-Angebot der Regierung, wonach man seine Schwarzbauten selbst anzeigen, eine geringe Strafe zahlen und damit die Gebäude legalisieren konnte. Doch während im Norden des Landes nahezu 80 Prozent der Nacht-Bauer ihre Missetat zugaben, waren es in Sizilien kaum 10 Prozent — ausgerechnet hier, wo mehr als eineinhalb Millionen illegaler Häuser herumstehen. Warum ändert man das Gesetz nicht, gerade hier im Erdbebengebiet, wo Bauen mehr als anderwärts Sicherheiten verlangt? Der Dezernent hebt wieder die Schultern: „Weil die Leute hier noch ärmer sind als anderswo. Die meisten konnten selbst die paar hunderttausend Lire (umgerechnet 300 bis 500 DM) für die Amnestie nicht aufbringen. Ihnen ihre Häuser abzureißen würde bedeuten, Familien mit zehn oder fünfzehn Personen auf die Straße zu setzen. Wo sollen wir die dann unterbringen? Es fehlt überall an Wohnraum.“ Der Staat hat sich an die bequeme „Kohabitation“ zwischen seinem legalen, aber nirgendwo ausreichenden Sozialbauprogramm und dem illegalen Sektor gewöhnt, auch wenn es im Parlament und seitens der Minister öfter böse Attacken gegen die Schwarzbauer gibt.
Tagtäglich rülpst der Ätna vor sich hin
Die Frage hier, wo tagtäglich der nur ein Dutzend Kilometer entfernte Ätna vor sich hinrülbst, die Erdbebenwarten jeden Tag bis zu zwanzig leichter Erschütterungen registrieren, die Annalen bis aus der Zeit vor Christus Beben ausweisen, die ganze Städte bis auf die Grundmauern zerstören (das letzte 1693, wo in allen umliegenden Städten, einschließlich der Provinzhauptstadt Catania, kein einziges Gebäude heil blieb und das benachbarte Noto völlig zerstört wurde), lautet: Warum bauen die Menschen hier, angesichts solcher Perspektiven, nicht von sich aus mit besserem Material? Calogero Manino lacht kurz und böse: „Das mußte mal die Haie fragen, die da überall herumlauern.“ Er deutet hinüber zu dem unbebauten Grundstück hinter einer Kirche, dort, wo ein Transparent zwar verheißt „Zeltstadt des Zivilschutzministerium“, wo aber weder ein Zelt noch ein Wohnwagen zu sehen ist. Dafür aber sitzt da ein Mann, der eine Art Schreibtisch vor sich und einen Gasheizofen hinter sich aufgebaut hat. Er läßt von den Einwohnern Zettel unterschreiben, wonach ihre Häuser völlig zerstört und sie selbst ohne Dach überm Kopf seien — und daß sie ihn mit der Wahrnehmung ihrer Interessen dem Staat gegenüber beauftragen. Als ich hinkomme, packte er gerade einen Stapel von sicher nicht weniger als hundert solcher Erklärungen ein, die Schlange vor ihm ist noch mehr als das doppelt so lang. Jeder wird auch gefragt, ob er sofort einen „Wiederaufbauauftrag“ geben will, eine Firma, spezialisiert in der Rekonstruktion geschädigter Gebäude, gebe da Sonderkonditionen... „Und so“, flüstert er mir, ehe ihm klar wird, daß ich nicht dazugehöre, eindringlich zu, „bleibt dir dann noch ein schöner Batzen übrig, wenn du jetzt schon den Auftrag gibst.“ Der Zettel für die Schädigungsanzeige enthält auch eine Klausel, wonach der „Interessensbeauftragte“ seine „Unkosten sowie einen Betrag von 10 Prozent der Schadenssumme erhält“. „Das ist der mieseste Trick, den du dir denken kannst,“ sagt Calogero (aber er sagt es erst, als wir weit weg sind): „Da die meist sowieso nur 20 bis 30 Prozent des wirklichen Schadens ersetzt kriegen, schneidet der sich faktisch die Hälfte davon ab, denn der Satz bezieht sich auf den Schaden, nicht auf die Entschädigungssumme.“ Und: „Mit dem Wiederaufbauvertrag sind sie aber gebunden, die Arbeit durchführen zu lassen — und viele schreiben sich hier noch dazu als Opfer ein, obwohl sie gar keine Schäden haben. Die Rechnung kommt danach.“ Die Firma, die kennt er: „Die baut wieder nur mit Tuffstein, heute wahrscheinlich noch schlechterem als vor dreißig Jahren, als sie schon im Belice-Tal nach dem damaligen Erdbeben nur Unfug angerichtet haben.“
Erdbebensicheres Material nach USA
Die Absurdität liegt darin, daß es erdbebensicheres Material gar nicht weit weg von hier in Mengen gab — auf den Äolischen Inseln, etwa auf Lipari, etwa 60 Kilometer entfernt. Nur: Das Bimsgestein, das elastisch Erschütterungen abfedert und das deshalb sehr begehrt ist, wird von einer Firma ausgebeutet, die nahezu keine Abgaben dafür an den Staat bezahlt — und die alles zu horrenden Preisen in die USA und nach Japan verkauft. Für die Sizilianer bleibt da überhaupt nichts — im gesamten Erdbebengebiet von voriger Woche stand nicht ein einziges mit solchem Material gebautes Haus.
Italien entdeckt bei solcher Gelegenheit mit ziemlich schlechtem Gewissen seinen Hinterhof, und so haben manche Beiträge in den Medien mitunter fast rührenden Charakter — werden aber in Sizilien derzeit eher als Zynismus empfunden. Der 'Corriere della sera‘ z.B. verwies in einer eigenen Spalte darauf, daß das „Erdbeben von 1693 mit seiner Totalzerstörung vieler Städte“ auch etwas Schönes im Gefolge hatte — „die Kreation des wunderbaren Barock von Städten wie Noto oder Catania“.
Zumeist jedoch hagelt es dann Polemiken gegen den Zivilschutzminister und die Verspätung seiner Hilfsmaßnahmen. Der wiederum rechtfertigt sich ebenfalls recht italienisch: „Meine Güte, wir haben Winter. Und wo gibt es im Winter normalerweise Einsatzanforderungen? Doch nicht im Süden, sondern im Norden, wo Lawinen Dörfer verschütten und Staudämme brechen.“ Da man einen Großteil der Soforteinsatz-Geräte dorthin konzentriert hatte, waren sie nicht so schnell verfügbar — der in den letzten zwei Wochen gefallene Schnee nämlich hatte die Zufahrtswege blockiert.
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