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DIE NEUE VÖLKERWANDERUNGDas Weltproblem Flüchtlinge macht an Europas Grenzen keinen Halt

Die Krisengebiete der Welt sind die Fluchtgebiete der Welt. Ob es, je nach Angaben, 15 oder 500 Millionen Flüchtlinge sind – Aufnahme finden sie eher in der „Dritten Welt“ als in den Industrienationen. Doch auch hier konkurrieren zunehmend Arbeitssuchende mit Flüchtlingen um die Arbeitsplätze. Trotz Errichtung bürokratischer Grenzen gelingt es den europäischen Ländern nicht, sich abzuschotten. Wir brauchen eine neue Diskussion: um die Menschenrechte von Migranten.  ■ VON ANDREAS GERMERSHAUSEN UND ROBI SCHNIDER

15 Millionen Menschen sind heute nach Angaben des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) auf der Flucht. Andere internationale Organisationen geben weit höhere Zahlen an – so spricht das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) von etwa 500 Millionen Flüchtlingen und befürchtet, daß sich diese Zahl bis zum Jahr 2000 verdoppeln wird. Nach internationalem Recht werden Binnenflüchtlinge nicht berücksichtigt, also Flüchtlinge, die keine internationalen Grenzen überschritten haben. Deren Zahl beziffert das US- Flüchtlingskomitee (USCR) auf derzeit etwa 18 Millionen. Aus den südlichen Ländern gelingt es nur wenigen, bis nach Westeuropa und Nordamerika zu kommen. Die „Dritte Welt“ ist zum Flüchtlingslager der Welt geworden: Über 12,5 Millionen der vom UNHCR anerkannten Flüchtlinge, also mehr als zwei Drittel, wurden in Afrika, Asien und in Lateinamerika aufgenommen. Dennoch ist in den letzten Jahren auch die Zahl derjenigen enorm gestiegen, die in der „Ersten Welt“ Zuflucht gesucht haben.

Das internationale System der Flüchtlingshilfe

In der „Dritten Welt“ gibt es Länder, die sich zu erheblichen Teilen aus Flüchtlingsbevölkerungen zusammensetzen (siehe Graphik). An der Spitze der Aufnahmeländer liegen seit Jahren Pakistan, wo 1989 3,6 Millionen Flüchtlinge lebten, und der Iran mit 2,8 Millionen – in beiden Ländern handelt es sich vor allem um Flüchtlinge aus Afghanistan. Aber auch andere Weltregionen sind zu Krisenherden geworden. So wird der Exodus aus Mosambik öffentlich kaum wahrgenommen. Dies mag daran liegen, daß fast alle Flüchtlinge, die vor dem Bürgerkrieg in diesem südostafrikanischen Land fliehen, in den Nachbarländern bleiben. Malawi ist wegen dieser Krise zu einem der Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen geworden – ein Land, das selbst zu den ärmsten der Welt zählt.

Die Diskussion über internationale Flüchtlingshilfe hat sich in den letzten Jahren verändert. Lange war Flüchtlingshilfe lediglich als Not- und Katastrophenhilfe angesehen worden. Als solche war sie als eine zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen und somit als Thema internationaler Politik anerkannt gewesen. Entsprechend wurde die Tätigkeit des 1950 eingerichteten UN-Flüchtlingskommissariats als karitativ und unpolitisch definiert.

In seiner Gründungszeit ging es dem UNHCR noch um die Folgen des Zweiten Weltkriegs; um die Rückführung von Flüchtlingen und um die Vermittlung Vertriebener in neue Aufnahmeländern. Die Bestimmung seiner Hilfeleistungen als allein humanitäre, eben nicht politische Aufgaben hat sich dabei weitgehend bewährt. Es stand mit dem UNHCR nun eine weitere internationale Körperschaft zur Verfügung, die das auf den Schutz von Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung bei militärischen Aktionen eingeschränkte Mandat des Internationalen Roten Kreuzes auf die Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen ausweitete. Das UNHCR wurde als zwischenstaatliche und gerade nicht als private Agentur (wie das IKRK) gegründet, um Flüchtlingen das Verbot der Zurückweisung und den Schutz vor Ausweisungen bei der Gefahr von Leben und Freiheit wirksam sichern zu können.

Hiermit wurde eine neue Institution internationaler Politik bereitgestellt, die die Folgen von Krisen aufgreifen konnte, bevor und ohne daß zuvor die konfligierenden politischen Positionen hätten geklärt werden müssen. So konnte etwa der Ost- West-Gegensatz in der internationalen Flüchtlingshilfe weitgehend ausgeklammert werden, obwohl er in den vergangenen vierzig Jahren alle weltregionalen Krisen bestimmte. Auch wenn die Sowjetunion und mit ihr die osteuropäischen Staaten dieser UN-Unterorganisation nicht beitraten – erst 1989 lockerte sich diese Haltung mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention durch die ungarische Regierung –, war der UNHCR in sozialistischen Ländern der „Dritten Welt“ wie etwa Äthiopien schon längst tätig.

Bereits in den fünfziger Jahren erwies sich die Hoffnung als trügerisch, daß die meisten Flüchtlinge nach der Lösung internationaler Konflikte in ihre Herkunftsländer „repatriiert“ würden, also zurückkehren könnten. So ging es in der Sprache der UN-Flüchtlingshilfe um die Schaffung dauerhafter Lösungen in den Erstasylländern sowie um die Vermittlung von Flüchtlingen in Drittländer. Spätestens mit Beginn der Weltflüchtlingskrise in den siebziger Jahren (zunächst in Indochina und Schwarzafrika) hat sich aber das Scheitern der UN-Flüchtlingsstrategie gezeigt. In den derzeitigen Zentren internationaler Fluchtbewegungen – in Südost- und Südasien, im Mittleren Osten, am Horn von Afrika, im südlichen Afrika und in Mittelamerika – gelingt es dem UNHCR bereits seit Jahren nicht mehr, selbst die nach den engen Kriterien des internationalen Rechts anerkannten Flüchtlinge in Drittländer vermitteln zu können. Die Indochinaflüchtlinge waren vielleicht die letzte Flüchtlingsgruppe, die Ende der siebziger Jahre zumindest zu einem Teil auf die Industriestaaten verteilt wurde. Die USA und Australien nahmen damals die weitaus größte Zahl von Flüchtlingen auf, während die Bundesrepublik sich mit der Aufnahme von nur etwa 35.000 Flüchtlingen aus Vietnam, Kambodscha und Laos an der Quotierung beteiligte. Seitdem blieben alle Bemühungen um ähnliche Lösungen ohne Erfolg. Die Aufnahme in Nachbarländern ist heute die vorwiegende Form der Folgenbewältigung militärischer Konflikte geworden. Die internationale Hilfe reduziert sich dadurch aber auf die Vermittlung infrastruktureller und materieller Ressourcen.

Die Defizite des internationalen Systems der Flüchtlingshilfe sind damit angedeutet. In den letzten zwanzig Jahren zeigte bereits das enorme Anwachsen internationaler Fluchtbewegungen die Hilflosigkeit und das Scheitern des alten Konzepts an. Daß sich in vielen Krisenregionen Flüchtlingslager als Ghettos gebildet haben, die zum Teil schon länger als ein Jahrzehnt bestehen, deren Bevölkerung dauerhaft vom Empfang materieller Hilfsgüter abhängig ist und wo soziale Regeln und gesellschaftliche Traditionen längst aufgeweicht wurden, das sind Facetten dieses Scheiterns. Beim UNHCR und bei anderen internationalen Organisationen ist man sich der scheinbar ausweglosen Lage durchaus bewußt. Kaum noch jemand erwartet, mit den bisherigen Mitteln das weltweite Flüchtlingsproblem lösen zu können. Im Dialog zwischen internationalen Nichtregierungsorganisationen und den verschiedenen UN-Unterorganisationen zeichnet sich nun eine engere Anbindung der Flüchtlingshilfe an die Entwicklungspolitik ab. Eine solche Wendung schien lange ausgeschlossen, schien doch die auf rechtliche Fragen konzentrierte Flüchtlingshilfe mit ökonomischen und sozialen Ansatzpunkten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit unvereinbar zu sein. Im letzten Jahrzehnt bahnte sich aber eine Änderung an: 1980 wurde in der UN-Generalversammlung über die „Wurzeln des Flüchtlingsproblems“ diskutiert, und 1984 begannen erste Kooperationen zwischen dem UNHCR und Weltbank.

Entwicklungspolitik, Migration und Flucht

Viele Diskussionen einer „Dritte-Welt“-Politik konzentrierten sich lange an ökonomischen Interessen. Im Vordergrund standen multinationale Konzerne, deren Kapitalexporte sich, so die These, jeweils auch am billigst möglichen Nutzen der Ware Arbeitskraft orientierten. Aus dieser Sicht wurde Ausbeutung global von einem Weltmarkt strukturiert, wo „Billiglohnländer“ miteinander konkurrierten und der von den Ländern der „Ersten“ und – weniger nachhaltig – der „Zweiten Welt“ bestimmt wurde. Eine solche Sicht wirkt heute wenig angemessen. Globale Probleme ganz anderer Art sind ins Blickfeld geraten, besonders die von Menschen ausgelösten Katastrophen: neben ökologischen Krisen sind es besonders die regionalen Kriege und das nicht zu steuernde Anwachsen der Weltbevölkerung, Landflucht und Megastädte, interethnische Konflikte und neue nationalistische Bewegungen. Die „Dritte Welt“ kann vor diesem Hintergrund als ein Konglomerat heterogener Regionen angesehen werden, aus denen zunehmend mehr Menschen in die industrialisierten Zentren drängen. Weltweite Massenflucht wird so vor allem als eine Gefahr für das Wohl der „Ersten Welt“, für unseren Wohlstand perzipiert.

Wie der Weltmarkt der Produktionsstandorte hat sich längst auch ein Weltmarkt der Arbeitskräfte gebildet, dessen Zentren internationale Migrationsbewegungen anziehen und der selbst auch grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen strukturiert. Esgeht ja nicht allein um die weltweit 100 Millionen illegalen Arbeiter, von denen das Internationale Arbeitsamt heute spricht (in den USA sind es etwa zehn Millionen, und auch in der EG sind illegale Einwanderungen an der Tagesordnung). Meist wird übersehen, daß während des größten Teils des 20. Jahrhunderts gerade die Industrieländer enormes Interesse an legaler internationaler Arbeitsvermittlung hatten: Nach England, Frankreich und den Niederlanden wanderten Arbeiter aus den Kolonien ein, im Bergbau, bei Kanal- und U-Bahn-Bauten waren Migranten gefragt, und die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit warb im südlichen Europa, insbesondere in der Türkei, um Arbeitskraft. Daneben gab es immer auch Saisonarbeit, für die Arbeitskräfte gesucht wurden; und zwar trotz der scheinbaren Überlastung der Arbeitsmärkte. Regelmäßig fordern Winzerverbände aus der Bundesrepublik eine Liberalisierung der Einreisebestimmungen für Erntearbeiter; das Bundesinnenministerium denkt über eine Lockerung des für Flüchtlinge erst seit 1982 gültigen Arbeitsverbots in einzelnen Branchen nach.

Zugleich hat sich in den letzten 20 Jahren aber die Zahl der Arbeitsmigranten, die auf dem Weltmarkt keine Arbeit finden, wie die Zahl der Flüchtlinge dramatisch erhöht. Dabei wird es schwerer und auch zunehmend weniger sinnvoll, zwischen Arbeitsuchenden und Flüchtlingen scharf zu trennen. Flüchtlinge suchen auch Arbeit – und der deutsche Weg, Asylsuchende ins soziale Netz zu zwingen und Arbeitsaufnahmen zu illegalisieren, ist nur der Sonderfall –, und Arbeitsmigranten verlassen häufig auch aus politischen Gründen ihre Heimat. Dies zeigte sich etwa an der türkischen Migration in die Bundesrepublik, die in Zeiten politischer Krisen – insbesondere in der Zeit um den Militärputsch von 1980 – stark anstieg. Ein anderes Beispiel des engen Zusammenhangs von politischer Repression und Fremdarbeit zeigte sich an der starken Rückwanderung von Spaniern und Griechen, nachdem in diesen Ländern in den siebziger Jahren Militärdiktaturen gestürzt worden waren.

Europäische und deutsche Perspektiven

Die Asylpolitik Deutschlands wie der Europäischen Gemeinschaft insgesamt läßt zwar Befürchtungen zu, daß sie nicht länger das Vorbild bei der Durchsetzung von Menschenrechten sein wollen. Die von vielen befürchtete Abschaffung oder Einschränkung des Asylparagraphen im deutschen Grundgesetz beseitigt aber weder die Ursachen von Flucht, noch kann diese die weitere Zuwanderung von Flüchtlingen wirksam begrenzen. Hinzu kommt, daß sich die europäischen Regierungen an das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention zu halten haben. Nicht nur die Bonner Regierung und ein Großteil der Medien sind der Meinung, daß die Zahlen neu zugewanderter Flüchtlinge in der bisherigen Bundesrepublik auffallend hoch seien. Sicher, sie sind in den vergangenen Jahren gestiegen.

Dennoch ist mit dem sogenannten Schengener Abkommen der EG-Kernländer erreicht worden, daß der massive Zuzug von außereuropäischen Flüchtlingen verhindert werden konnte. Nach den Angaben des UNHCR lag die Bundesrepublik Deutschland bei der Anerkennung politischer Flüchtlinge (im Verhältnis zur Bevölkerungszahl) bisher mit Ländern wie Norwegen sogar am Ende der Aufnahmeländer in Europa. Die tatsächliche Aufnahme lag allerdings, hier hat das Bonner Innenministerium recht, erheblich höher. Hinzuzurechnen sind nämlich die sogenannten De-facto-Flüchtlinge, die zwar keinen sicheren Rechtsstatus als anerkannte Flüchtlinge erstreiten konnten, aber aus humanitären Gründen von den Länderinnenministerien geduldet werden. Hierzu gehört die große Zahl derjenigen, die geduldet wurden, weil Abschiebungen in die Ostblockländer nicht durchgeführt wurden, sowie diejenigen, die unter Hinweis auf den Abschiebeschutz der Genfer Flüchtlingskonvention zeitweise Zuflucht im Bundesgebiet gefunden haben. Die Genfer Konvention ist in Deutschland bindendes innerdeutsches Recht und in Formulierungen des Asyl- und Ausländerrechts partiell aufgenommen worden.

Der Umbruch im ehemaligen Ostblock und die Außengrenzen Europas

Offensichtlich hat Europa keine Aussicht, über längere Zeit seine Grenzen wirksam gegenüber den Peripherien der Welt abzudichten. In den achtziger Jahren haben sich die Industriestaaten zunehmend und systematisch vor der Zuwanderung von Flüchtlingen abgegrenzt. Die mit dem Namen der kleinen niederländischen Stadt Schengen verbundene Politik gibt das westeuropäische Modell externer Grenzziehung vor; der „Rio Grande“ an der Südgrenze der Vereinigten Staaten ist zur nordamerikanischen Wohlstandsgrenze geworden. Und auch die übrigen Industriestaaten spielen auf der Tastatur geschlossener Grenzen und allenfalls restriktiver Zuwanderung. Denn auch für Westeuropa gilt noch immer, daß in gewissem Umfang auch (illegale) Zuwanderer meist geduldet und in den Arbeitsmarkt integriert werden. Der multikulturelle alte Kontinent hat seine Peripherien für Einwanderungen geöffnet, und der Umbruch im vormaligen Ostblock hat die Grenzfragen neu gestellt.

Restriktive juristische und praktische Regelungen werden die Zuwanderung nicht steuern können. Stattdessen muß der Flüchtlingsbegriff neu gefaßt werden. Wir brauchen eine an sozialen und ökonomischen Interessen orientierte Diskussion um die Menschenrechte.

Andreas Germershausen und Robin Schneider sind Ethnologen. Sie bereiten derzeit am Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung einen Weltflüchtlingsbericht vor.

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