: Wintertag
■ Eine Erzählung von Margarete Groschupf
Das Aufwachen morgens fühlt sich an als Chance. Noch vom Traum ungewollt, ohne Hilfe und Anstrengung auf diese Schrecken zurückgeworfen, die ich mitbringe vom Weihnachtsfest. Es waren die Stimmen, die immer wieder — und jetzt nicht nur die Eltern, auch die Geschwister, die doch auf meiner Seite stehen? — Anklagen brauten, damit mein Tun und Lassen zerreißen wollten, hämisch verschworene Meute. Deutlich, all dies wieder deutlich, mein Entsetzen ganz klar, es brennt in mir, ich weiß, was es ist, was schmerzt. Ein neuer Ausgang, von dem her die Welt sich wieder klären kann, ich halte mein Unheil in den Händen, eine Hoffnung aus Schmerz, die ich quellen lasse, fruchtbar für einen »guten Morgen«?
Das Panorama dieses Weltaufenthaltes: Dickicht, Schlamm, Schlacke, Moder. Fensterreihen verjüngen sich nach hinten hin, stoßen zusammen mit ihresgleichen, auf der anderen Seite noch einmal, was von hier aus nicht zu sehen ist. Braune Rahmen. Der Himmel — das schöne Wort muß schuld sein an dieser Enttäuschung — trieft und verdreckt jede Pore der Stadt mit seiner galligen Schlechtgelauntheit. Es ist grau in grau. Immerhin bewegt sich eine Taube in diesem viereckigen Rahmen, fliegt herum, krächzt, ächzt, hat mit ihren Kumpanen schon den Fenstersockel in meinem Badezimmer vollgeschissen, wollte sich da ein Nest bauen, was sie ja auch dürfte, nur kann das Fenster nicht immer offen bleiben. Die Scheiße ist jetzt schon acht Wochen alt. Frau oder Herr Taube wird sich wohl in diesem Winter zu Hause fühlen dank farblicher Verwandtschaft.
Mehr als eine Stunde ist vergangen, es ist in der ganzen Wohnung kalt, würde beim Frühstück kalt sein, würde auch nach dem Heizen kalt bleiben. Angestrengtes Betrachten, die Verhältnisse einzuschätzen, führt seit Wochen zum selben Ergebnis: Farbe und Frische, auf die es mir leider Gottes so sehr ankommt, also Farbe hat jener Plastikblumenstrauß, rote Nelken, die da immer ordentlich im Fenster stehen, bei diesen Leuten mit Gardinen. Die Hausverwalterin hat mal mit ihrer Schwester im Hof gestanden und sich über die jungen leute empört, die einfach keine Gardinen aufhängen. Es gibt aber noch Hoffnung für sie, genug Gardinen. Unten im Hof haben sie letzten Sommer den Zaun erneuert, der den Hinterhof halbiert, der alte Zaun war rostig, beulig und nun haben wir eine straff gespannte Separationslinie, anderthalb Meter hoch. Grün. Damals pflanzten sie auch diese blaue Blume auf's Beeteck, hellbau, die sich ewig gehalten hat.
Schlüssel, etwas Geld, Mantel übergezogen, um im Zeitungsladen dieses Lächeln zu erleben. Der breite Gehweg bleibt wie immer leer, kahl, die beiden Alten liegen noch nicht im Fenster. Neuerdings grüßen wir uns, er ist immer übereifrig und sie guckt so glasig, daß ich wohl für sie nur eine flimmernde Erscheinung bin. Wie hält sie's mit ihm bloß aus, so warzig, übergequollen, zerflossen und sie schmal, blaß, zehn Jahre jünger, richtet ihm das Leben aus. Ständig liegen sie auf diesen Kissen. Schneetötender Dreck, Antirutschmittel für Autos hat sich überall breitgemacht, klebt an den Schuhen. Autos hetzen dreispurig vorbei, erst neuerdings zieht sich mein Magen dabei zusammen, das Warten, bis der Verkehrsschub vorbei ist, wird jedesmal zu lange. Nicht viele Worte sind nötig, um ein paar Brötchen zu erstehen, mein besonderer Wunsch, als ich nach der Zeitung frage, die sie nun nicht mehr haben, wird nicht erfüllt. Es ist ein offener Blick, ein vager Blick, der nicht verstanden hat, worum es mir geht. Auf Wiedersehen, im Herausgehen notgedrungene Aufmerksamkeit für diesen Opa, der in meinem Haus wohnt und nur so betont grüßt, um einen neuen Spott zu sammeln. Neulich, als um 12 Uhr die Brötchen ausverkauft waren: »Wenn Sie immer so früh aufstehen...« Er ist der dritte im Bunde, der den Stacheldrahtzaun selbst aufgezogen hat, der tüchtige Rentner. Jedesmal eilt mein Blick auf den Zeitschriftenaushang zu, der bunteste Fleck weit und breit. Caroline von Monaco springt manchmal zwischen den anderen Zartheiten herum, viel Spaß. Irgendwie hat sie diese ganze Buntheit im Blut.
»An die Luft gehen« nennt man das ja auch, — im Hinterhof trete ich demnach aus der Luft wieder heraus. Es stinkt schlimmer als auf der Straße. Kohleheizung und Smog, die Teilnahme am Schicksal dieser übriggebliebenen Stadt läßt sich bezahlen.
Mein Radio knackt jedesmal beim Anschalten laut, will nicht, muß aber, tut dann auch: Liebesgrüße an alle, die sie wollen oder nicht und dann das Sprachstakkato einer unbarmherzigen Stimme, die wieder einen neuen Faktenstapel abläßt. Für meine frierenden Hände und meinen angespannten Bauch ist der Tee eine Zuflucht, auf die ich rechnen kann, eine Stunde morgens, die immer länger wird, als sie sein sollte, diskret hält sich der wandernde Uhrzeiger im anderen Zimmer auf. Nur mein Blick lernt nicht den gebotenen Respekt vor dem Fenster. Keine Warnung war deutlich genug. Die Fenster verjüngen sich zur Ecke hin, ein Elektrokabel hängt vom Dach herab, daneben läßt jemand ein schwarzes Ding, Antenne oder so, abwärts laufen.
Das Gesicht im Spiegel — ist wieder nur das von vorher. Vielleicht blässer, sehr eben, keine besondere Überraschung. Ist es noch erkennbar als klar und einverstanden, wie ich es sonst schätzte?
Lippenstift und die Augen werden blauer, die Haare fallen auch nicht schlecht, dieser Tag ist schließlich auch ein Projekt.
Zwei Wegmöglichkeiten zur U-Bahn. Verregnete Gesichter posieren als Marksteine auf der Straße, eine Chance zum Grüßen zu geben wird zu viel Offenbarung sein. Sie ignorieren mich wie sich. Immer dasselbe: Wenn ich aus den Ferien zurückkomme, bleibt die Krankheit eine Weile diagnostizierbar, es ist das deutsche Leben, die sparsame Wirtschaft mit persönlichen Gesten, die Freude darüber, wenn jemand Merkwürdigkeiten, Absurditäten in die Allgemeinheit setzt. Die klammfeuchte Furcht vor Mißbilligung, der moralische Dämon, der hier Ordnung schafft und hält, so daß niemand Zeit vergeudet, Geld vergeudet.
Längs der Straße wurden kürzlich Gitter erbaut, die Passanten von den Kindergartenbüschen zu trennen, an der Würstchenbude führt der Zaun sogar im rechten Winkel um einzelne Bäume herum. Der Bus furzt und stinkt im Vorbeifahren, es geht hier eine ganze Weile geradeaus, so geradeaus. Rechts die weiße lange Krankenhausmauer, links, ich gehe dann schon lieber links, Tapeten hinter Glas und Einbauschränke, wo kein Lüftchen sich rührt. Wieso lassen sich die Leute anschrein von solchen orange-grünen Kreismustern, Sonnenuntergang aus dem Kaufhaus, wohin gucken die, wenn sie auf dem Sofa sitzen?
Trotzdem geht es mit mir ins unterirdische Niemandsland, Luftanhalten für sechs Minuten, bis die verfluchte Bahn kommt. Die lachenden Riesengesichter fressen jede Erinnerung an anderes auf. Deutsche sollen nun auch Wildwest-Helden werden, aktiv sein und genießen, ich setze mich auf die Bank, um Ruhe zu haben, mich sammeln zu können. Sehe wieder weg, drehe mich um, den Blick loszuwerden. Wenn ich ihm die Zunge rausstrecken würde, hätte ich gleich noch mehr Aufmerksamkeit am Hals.
Was mache ich falsch? »Ohne Erwartungen sein« heißt eine Parole, die manche anwenden, sie plädieren für das Heldentum jenes autonomen Individuums, das strahlende Augen als Taufgeschenk einer Fee bekommen hat und als Magier der guten Laune seinen Privatberuf ausübt. Hätte ich mir einen Wintervorrat von unverdauten Erlebnissen anlegen sollen, eine undurchsichtige Brille aufsetzen sollen, um im Panorama der Vergangenheit zu bleiben, bis der Dunst sich hebt?
Das Gedränge in der U-Bahn erweist sich als hilfreicher Rahmen. Das Elend ist ein allgemeines: in verschiedenen Versionen läßt sich hier der Niederschlag eines echolosen Alltags ablesen. Die Stimme vom Tonband kommt unweigerlich, ein schriller Peitschenhieb durch die Luft, wie es vorherzusehen war, nächster Bahnhof Putlitzstraße. Niemand tut etwas dagegen, wie denn auch. Schweigen. Ausharren.
Später in der Universität. Bevor wir das Referat halten und sprungbereit der Front der Zuhörer zugewandt sitzen, findet sich kein Gesicht im Gegenüber, zu dem, mit dem zu sprechen wäre. Mein Blick stolpert über diese Köpfe, vermeidet die deutlichsten Leerstellen, haltlos.
Die Plastikwände der Lehrfabrik dringen durch die Gestalten hindurch, ich kann niemandem zuhören. Ohne ein Ziel im Kopf wieder zur U-Bahn, nach Hause, eine Frage der Zeit, der Geduld, der Kraft, der Ausdauer.
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