piwik no script img

Mit einem blauen Auge davongekommen?-betr.: "Der verlogene Handel auf dem Geiselbasar" von Thomas Dreger", taz vom 21.12.90

betr.: „Der verlogene Handel auf dem Geiselbasar“ von Thomas Dreger, taz vom 21.12.90

Mit Empörung habe ich vor allem die Überschrift zu dem oben genannten, ansonsten in weiten Teilen zutreffenden Artikel, gelesen und möchte dazu aus meiner Sicht Stellung nehmen.

Wie wir inzwischen alle wissen, haben deutsche Firmen illegal, jedoch überwiegend mit Genehmigung der Bundesregierung, erheblich an der Aufrüstung des Irak teilgenommen. Im Sommer, als sich ohnehin sehr viele der in Kuwait und im Irak lebenden und arbeitenden Menschen, auf jeden Fall aber die meisten (einfluß)reichen in- und ausländischen Bürger im Urlaub in klimatisch erträglicheren Ländern aufhielten, ohne daß sie von einer Kriegsgefahr gewußt haben müssen, sah sich Saddam Hussein in der Lage, Kuwait zu annektieren. Der 2.August, der Tag der Invasion, machte alle Ausländer im Irak und in Kuwait mehr oder weniger zu Geiseln Saddam Husseins. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es wurden nur diejenigen Deutschen verschleppt und als menschliche Schutzschilde für strategisch wichtige Orte mißbraucht, die sich am 2.August in Kuwait aufhielten. Von diesen Menschen war meines Wissens ein einziger mittel- oder unmittelbar in der Rüstungsindustrie tätig!

[...] Wir Irak-Geiselangehörigen haben uns zusammengetan und uns für die Freilassung aller im Irak festgehaltenen Menschen stark gemacht. Da uns die Bundesregierung mit ihren ständigen inhaltsleeren Äußerungen: „Wir tun alles in unserer Macht Stehende für die deutschen Geiseln!“ nur versuchte hinzuhalten, haben wir uns dafür eingesetzt, daß ein bedeutender regierungsferner deutscher Politiker in den Irak fliegt, um sich um die Geiseln zu kümmern. Als sich Willy Brandt dazu entschloß, diese schwere und undankbare Aufgabe zu übernehmen, erhielt er zunächst von keiner politischen Seite die notwendige und wünschenswerte Unterstützung. Seine Aktion glich einem Spießrutenlauf. Die Regierung und allen voran Herr Kohl versuchten, Herrn Brandt alle nur denkbaren Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

In Bagdad spielte Saddam Hussein ein übles Spiel, als er im Vorfeld der Reise durch seine Äußerungen geweckte hohe Erwartungen zunichte machte, indem er zunächst nur für wenige Geiseln die Ausreise zusagte und dies Herrn Brandt nicht einmal persönlich mitteilte. Bei der Rückkehr der letztendlich doch erfolgreichen Mission zogen die Presse und die Regierung, von der kein Vertreter zur Begrüßung am Frankfurter Flughafen erschienen war, den Erfolg der Reise in Zweifel, obwohl keine der vorangegangenen humanitären Aktionen westlicher Politiker so erfolgreich gewesen war.

Die Kritik an Herrn Brandts Reise hinderte Herrn Kohl jedoch nicht, sich den Erfolg im Wahlkampf selbst zuzuschreiben, ohne jemals das Geringste dafür getan zu haben.

Wir, die Ex-Geiseln und Angehörige, sind Herrn Brandt überaus dankbar, daß er die Reise im Namen der Humanität unternommen und den Grundstein für die Freilassung aller deutschen Geiseln gelegt hat. Wir sind froh, daß er sich für die Freilassung aller festgehaltenen Europäer eingesetzt hat, obwohl er sich damit natürlich der Gefahr ausgesetzt hat, neben unschuldigen Geiseln auch einige „schwarze Schafe“ mit nach Hause zu bringen. Aber sollten die vielen unschuldigen Geiseln darunter leiden, daß im Irak auch deutsche Waffenexperten festgehalten wurden? [...]

Ich kann in Herrn Brandts Mission beim besten Willen nichts Verlogenes entdecken! Die Verlogenheit liegt für mich in der von Regierungsseite aus genehmigten Aufrüstungshilfe etlicher deutscher Firmen für den Irak. Aber nicht nur bei der Regierung und den Firmen ist die Schuld zu suchen. Jeder einzelne Ingenieur in den entsprechenden Industrien, der in den Irak gefahren ist, um seinen Job zu erledigen, kann sich seiner Verantwortung nicht entledigen. Er hat sich mitschuldig gemacht!

Verlogen ist es für mich, bei dem jetzigen allgemeinen Wissensstand nicht nachdrücklich die Firmen, die an der Aufrüstung gut verdient haben (und bei einem Kriegsausbruch noch besser verdienen würden), zur Rechenschaft zu ziehen und Vorkehrungen zu treffen, daß es so etwas in Zukunft nicht geben wird.

Verlogen ist es meiner Meinung nach auch, sich eine friedliche Lösung des Golfkonflikts zu wünschen, aber von Regierungsseite aus viel zu wenig, viel zu langsam und viel zu wenig nachdrücklich in dieser Richtung zu unternehmen. Statt dessen werden in großem Umfang deutsche Rüstungsgüter im Rahmen der Nato an den Golf verlegt und Spezialeinheiten der Bundeswehr an die Ostgrenze der Türkei entsandt!

Wir, die Ex-Geiseln und ihre Angehörigen sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Aber sind wir das wirklich? Heidi Decker, Göttingen

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen