: Eine Niederlage für die Vernunft
■ Zum Rücktritt der litauischen Premierministerin Kazimiera Prunskiene KOMMENTARE
Wir haben eine rationale und intelligente Stimme verloren, das ist ungefähr das letzte, was Litauen gegenwärtig braucht.“ Prägnanter als mit diesen Worten eines Abgeordneten des Parlaments zu Vilnius läßt sich die Situation nach dem Rücktritt Kazimiera Prunskienes nicht beschreiben. Der Ministerpräsidentin ist zum Verhängnis geworden, daß die Mehrheit der herrschenden Unabhängigkeitsbewegung Sajudis sich einem schrittweisen Vorgehen bei den Verhandlungen mit Gorbatschow ebenso verweigert wie einer standhaften Haltung angesichts der verwickelten Probleme der Wirtschaftsreform. Indem das Parlament die Preiserhöhungen zurücknahm, konnte fürs erste verhindert werden, daß die der bürokratisch-zentralistischen Linie der Moskauer Konservativen folgende „Interfront“ Kapital aus dem sozialen Protest schlägt. Aber zu glauben, bei der Dienstagsdemonstration vor dem Parlament handle es sich nur um das Werk prosowjetischer Provokateure, so Präsident Landsbergis, ist nichts als Selbstbetrug. Die Preisreform in Litauen ist unumgänglich. Beim Streit um diese Reform werden sich unterschiedliche soziale Interessen artikulieren. Damit kann eine demokratische Unabhängigkeitsbewegung fertigwerden, wenn sie nicht der Vorstellung erliegt, die Nation müsse homogen sein, mit einer Stimme sprechen, aus einem Gefühl leben. Die panische Reaktion des litauischen Parlaments zeugt von diesem irrigen Einheitsmythos. Auch in der alles entscheidenden Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ist nach Frau Prunskienes Rückzug der Vormarsch irrationaler Stimmungen zu befürchten. Das Kabinett Prunskiene vertrat wie die gesamte Sajudis die Auffassung, Litauen gehöre nicht zum sowjetischen Staatsverband, mithin käme die von der sowjetischen Verfassung vorgeschriebene langwierige und diskriminierende Austrittsprozedur nicht in Frage. Wohl aber wäre mit ihm über Kompromisse, z.B. Übergangsregelungen oder eine Volksabstimmung zu reden gewesen. Es könnte sein, daß jetzt die Zeit knapp wird, mit der Sowjetunion überhaupt noch zu einer Übereinkunft zu kommen. Auf diese unerfreulichen Perspektiven hinzuweisen ist nicht gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Solidarität. Erst vor einem halben Jahr haben die Litauer angesichts des sowjetischen Embargos die Nerven behalten und Zivilcourage in einem selten erlebten Ausmaß praktiziert. Wenn sie jetzt gegenüber den sowjetischen Fallschirmjägern massiv zum Mittel des zivilen Ungehorsams greifen, sollten sie unserer Unterstützung sicher sein. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen